1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Das Tabu der vertriebenen Deutschen

Cornelia Rabitz 23. September 2003

In Deutschland wird über ein Zentrum gegen Vertreibung diskutiert. Es soll sich mit dem Verbrechen insgesamt befassen, doch wird die Vertreibung Deutscher nach dem 2. Weltkrieg eine Rolle spielen. Das sorgt für Streit.

https://p.dw.com/p/46EG
Heimatlose Kinder in Berlin 1947Bild: AP

Seit Wochen wird in Deutschland und seinen östlichen Nachbarländern über ein Zentrum zur Erinnerung an die Vertreibung Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg diskutiert. Strittig ist nicht nur die Frage, wo ein solches Zentrum letztlich angesiedelt werden soll, sondern auch, an was und in welcher Form erinnert werden soll. Auch der Bundespräsident hat sich eingeschaltet: "Wir brauchen die dauerhafte Erinnerung an das individuelle Leid der Opfer und an das schwere Schicksal ganzer Volksgruppen", sagt Johannes Rau. Auch bei den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen Ende September 2003 war dies ein Thema.

Die Vertreibung - das war nach Krieg und Flucht die dritte Katastrophe im Leben der Deutschen im Osten. Mehr als 14 Millionen Ostpreußen, Pommern, Schlesier und Sudentendeutsche wurden aus der Tschechoslowakei, aus Polen, aus Ungarn, Jugoslawien und Ostdeutschland geworfen. Ursächlich für ihr Schicksal waren freilich der Terror der Nationalsozialisten, der von Adolf Hitlers Regime entfesselte Zweite Weltkrieg, der Überfall des Deutschen Reichs auf seine Nachbarländer.

Hitler-Deutsche wüteten erbarmungslos

1938 besiegelte das Münchner Abkommen das Schicksal der Sudetendeutschen. Ihr Siedlungsgebiet wurde Hitlers Reich zugeschlagen - nicht unbedingt gegen den Willen der dort ansässigen, sehr nationalistisch eingestellten Bevölkerung. Die Tschechoslowakei wurde von den Nazis fortan "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren" genannt, sie überzogen das Land mit einer Schreckensherrschaft. Zehntausende wurden in Konzentrationslager verschleppt und ermordet.

Auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas wüteten Hitlers Helfer erbarmungslos. Die Rache am Volk der Unterdrücker war blutig. Mord, Vergewaltigung, Folter, Enteignung und Vertreibung - heute würde man das wohl "ethnische Säuberung" nennen. In der Tschechoslowakei lieferten die Benes-Dekrete die nachträgliche politische Rechtfertigung für Enteignung und Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland.

Zerrissene Familien

Für die betroffenen Menschen, die mit ein paar Habseligkeiten in einem gigantischen Treck nach Westen zogen, durch verwüstete Landstriche und zerbombte Städte, spielte dies freilich zunächst keine Rolle. Sie kamen als ungebetene Gäste in ein vom Krieg schwer gezeichnetes Deutschland, landeten in Barackenlagern oder provisorischen Unterkünften, misstrauisch beäugt von den Einheimischen. Familien waren zerrissen, Männer tot oder in Gefangenschaft, oft standen die Frauen mit ihren Kindern alleine da.

1953 wurde das Bundesvertriebenengesetz verabschiedet, es legte fest, wer Anspruch auf Hilfen bei der Eingliederung ins Leben der Bundesrepublik hatte. Die Betroffenen selbst organisierten sich in Verbänden und Landsmannschaften - ihre traditionellen Treffen, etwa zu Pfingsten, sorgten allerdings viele Jahre lang für Schlagzeilen. Radikal beharrten die Funktionäre auf einem Vaterland "in den Grenzen von 1937", pflegten einen rückwärtsgewandten Erinnerungskult und stemmten sich massiv gegen die Aussöhnung mit den Ländern Ost- und Mitteleuropas. Dies machte die Identifikation mit dem Leid der betroffenen Menschen schwer und trug zur Tabuisierung des Themas bei.

Deutsche als Opfer ein Tabu

Die Deutschen als Opfer - das war freilich noch aus einem anderen Grund ein Tabu. Vor dem Hintergrund der unermesslichen, von Deutschen begangenen Verbrechen während der Nazi-Diktatur galt es als ungebührlich, das selbst erfahrene Leid zu diskutieren. In der deutschen Literatur wurde das Thema freilich immer wieder aufgegriffen - ein regelrechter Sensationserfolg war im Jahre 2002 Günter Grass' Flüchtlingsroman "Im Krebsgang". Das Eis schien gebrochen. Und eine neue, unbelastete Historikergeneration wagte den unbefangenen Blick auf die Geschehnisse. Einen Generationswechsel gab es schließlich auch an der Spitze der Vertriebenenverbände.

Dies alles machte die breite, aber durchaus auch kontrovers geführte Debatte über ein Zentrum zur Erinnerung an die Vertreibungen wohl erst möglich. Der Bundespräsident mahnt: "Für gegenseitige Schuldzuweisungen aber, für das Hin und Her von Aufrechnung und Gegenaufrechnung, für die Anmeldung gegenseitiger materieller Ansprüche, darf es keinen Raum mehr geben. Denn das liegt hinter uns. Wer solches Verhalten wieder beleben will, der führt uns wieder in den Teufelskreis."