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Misshandlungen in deutschen Kinder- und Jugendheimen

13. Dezember 2010

In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik gab es in vielen Kinder- und Jugendheimen Gewalt, Zwang und sexuellen Missbrauch. Jahrzehnte hat es gedauert, bis das Thema öffentlich diskutiert werden konnte.

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Waisenkinder in einem Kinderheim (Foto: undat. / dpa)
Nach außen Idylle - ein Waisenheim in den 1950er- JahrenBild: picture-alliance / akg-images

Bis zu 800.000 Kindern wuchsen in den 1950er und 60er-Jahren in Deutschland in kirchlichen oder staatlichen Heimen auf. Was mit Fürsorge-Erziehung bezeichnet wurde, war für die Kinder und Jugendlichen oft eine jahrelange Tortur. Die Heime glichen oft Arbeitslagern oder Gefängnissen. Psychische, körperliche und sexuelle Gewalt prägten den Alltag vieler Heimkinder. Denn Ausbeutung und Gewalt hatte System.

Antje Vollmer (r.), Vorsitzende des Runden Tisches, neben dem ehemaligen Heimkind und Mitglied des Runden Tisches, Hans-Siegfried Wiegand (Foto: dapd)
Antje Vollmer, Vorsitzende des Runden TischesBild: dapd

So steht es - zusammengefasst - im Bericht des "Runden Tisches Heimerziehung" in Deutschland, der am Montag (13.12.2010) in Berlin vorgestellt wurde. Das Gremium war im Februar 2009 vom Deutschen Bundestag eingesetzt worden, nachdem ehemalige Heimkinder mit ihren schrecklichen Erfahrungen an die Öffentlichkeit gegangen waren.

Im Januar 2010 hatte der Runde Tisch einen Zwischenbericht vorgestellt, der das "System Heimerziehung" beschrieb: Demütigungen, sexuelle Übergriffe und massive Gewalt waren demnach in den 1950er und 60er-Jahren keine "bedauernswerten Einzelfälle" in deutschen Kinder- und Jugendheimen, sondern die Norm.

Ins Heim kommen konnte man damals aus verschiedensten Gründen kommen - und oft waren diese Gründe banal, wie der Runde Tisch in seinem Zwischenbericht festhielt:

"Ausgehend von Wertvorstellungen, die ausschließlich auf Tugenden wie Fleiß, Ordnung, Gehorsamkeit, Pünktlichkeit, Disziplin oder 'Sittlichkeit' konzentriert waren, konnten für ältere Kinder und Jugendliche bereits kleine Abweichungen von diesen Normen zur Heimunterbringung führen. Insbesondere für Mädchen galt die Erwartung der 'Sittsamkeit'. Auffällige Kleidung und Frisur oder häufige Partybesuche und 'unsittliche Gebärden' konnten für das Jugendamt bereits Anlass sein, eine Heimerziehung anzuordnen."

Schwarze Pädagogik

Kinderheim in Frankfurt 1957 (Foto: Deutsches Bundesarchiv)
Viele Kinderheime wurden von Kirchen betriebenBild: Deutsches Bundesarchiv/Rolf Unterberg

Gerade in den Nachkriegsjahren hatten viele Heimerzieher keine pädagogische Ausbildung. Sie waren ungelernte oder angelernte, schlecht bezahlte Arbeitskräfte. Im Bericht des Runden Tisches heißt es:

"Wenn auch nicht in allen, so herrschten doch in vielen Heimen in den 50er und 60er Jahren repressive und restriktive Erziehungsmethoden. Der Gedanke war weit verbreitet, dass Kinder generell, aber insbesondere gefährdete Kinder und Jugendliche, durch Härte, Zucht und Ordnung erst zu vollwertigen Menschen erzogen werden mussten."

Gewalttätige und menschenverachtende Methoden wurden aber auch in kirchlichen Heimen angewandt. Auch Priester, Diakone und Nonnen prügelten ihre Schutzbefohlenen, erniedrigten sie systematisch oder vergingen sich an ihnen. Ihre Erziehungsmethoden empfanden die Kleriker dabei anscheinend als christlich, wie der Zwischenbericht des Runden Tisches notiert:

"Auch Bestrafungen und Demütigungen wurden religiös begründet. 'Sünde' und 'Buße' waren zentrale Erziehungsbegriffe."

Eine Heimaufsicht gab es in den 50er-Jahren nicht, die Kinder hatten buchstäblich niemanden, den sie um Hilfe bitten konnten. Die jahrelangen Quälereien hinterließen bei vielen schwere psychische Schäden, viele leiden noch heute unter Alpträumen, Angstzuständen und Depressionen.

Autoritäres Klima

Dass die Heime und ihre menschenunwürdige Praxis so lange unbeobachtet und unkommentiert blieben, lag auch daran, dass körperliche Züchtigungen bis weit in die 60er-Jahre in der Pädagogik üblich waren.

Es waren die Studentenbewegung und die sogenannte APO (Außerparlamentarische Opposition), die Ende der 60er-Jahre die skandalösen Verhältnisse in deutschen Kinder- und Jugendheimen erstmals in aller Öffentlichkeit anprangerten. Tatsächlich wurden dann in den 70er-Jahren weitgehende Reformen in der Heimerziehung durchgeführt. Die Heimaufsicht wurde deutlich verbessert, ebenso wie die pädagogische Qualifizierung der Mitarbeiter. Kleinere Gruppen und dezentrale Unterbringung entspannten die Verhältnisse in den Heimen.

Doch noch lange hat es gedauert, bis die ehemaligen Heimkinder über ihre schweren traumatischen Erlebnisse in der Öffentlichkeit reden konnten. Oft schafften sie es erst jenseits der Lebensmitte, wenn die Misshandlungen bereits Jahrzehnte zurückliegen.

Autorin: Rachel Gessat

Redaktion: Kay-Alexander Scholz