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Das "Wunder von Chile"

14. Oktober 2010

Keine 24 Stunden nach dem Beginn der Rettungsaktion ist das "Wunder" Wirklichkeit geworden: Alle 33 verschütteten chilenischen Bergleute sind wieder über Tage. Nach zwei Monaten hat das Drama damit ein glückliches Ende.

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Schichtführer Luis Urzua mit Rettern (Foto:AP)
Schichtführer Luis Urzua kam als letzte der 33 Bergleute aus der TiefeBild: AP

"Die Erde hat einen Mann geboren!" Das chilenische Fernsehen fand pompöse Worte für diesen emotional überwältigenden Moment: Kurz nach Mitternacht Ortszeit (Mittwoch, 05:10 Uhr MESZ) entstieg Florencio Ávalos als erster der 33 verschütteten Bergleute der Rettungskapsel "Fénix" (Phönix). Nach mehr als zwei Monaten Ausharren in 700 Metern Tiefe war der 31-jährige zweifache Vater zurück an der Erdoberfläche. Ávalos wurde von seiner Familie in die Arme genommen und geküsst. Präsident Sebastian Piñera nahm Ávalos in den Arm, während die Umstehenden "Chile, es lebe Chile" riefen.

Die Nationalhymne erklang, rote Luftballons in Nationalfarben stiegen in den vor Sternen funkelnden Himmel über der Atacama-Wüste, unbekannte Menschen lagen sich in den Armen, selbst hartgesottene Journalisten brachen in Tränen aus.

Jubel, Tränen, Freudentaumel

Im Abstand von weniger als einer Stunde folgt jeweils der nächste Kumpel. Die Auffahrt in der nur schulterbreiten Kapsel dauert mit 15 Minuten im Schnitt weniger Zeit als erwartet. Für Erheiterung sorgte der zweite Gerettete, der Vorarbeiter Mario Sepúlveda, der schon als Spaßvogel und "Anwalt" der Gruppe unter Tage bekannt geworden war. Er brachte Gesteinsbrocken aus der Tiefe mit, einen drückte er Präsident Piñera in die Hand. Dann schrie er seine Freude und Erleichterung heraus: "Chi-Chi-Chi..Le-Le-Le!" Millionen sahen zu.

Keine 24 Stunden später, um 21:55 Uhr Ortszeit (Donnerstag, 14.10.2010, 02:56 Uhr MESZ) ist auch der letzte der eingeschlossenen Bergarbeiter gerettet. Schichtführer Luis Urzúa hatte erst auffahren wollen, nachdem er alle Kollegen in Sicherheit wusste. Anschließend mussten noch die Rettungskräfte aus der Mine geholt werden, die bei der Befreiung der eingeschlossenen Bergleute unter Tage geholfen hatten.


In zahlreichen chilenischen Städten wurde die Rettung der Kumpel live per "Public Viewing" übertragen, TV-Sender aus aller Welt begleiten die Rettungsaktion. In ganz Chile läuteten außerdem die Kirchenglocken. Politiker aus aller Welt feierten das "moderne Wunder", wie es der deutschen Außenminister Guido Westerwelle formulierte und schickten Glückwünsche nach Chile.

Banges Warten auf die Rettung (Foto: AP)
Bewegende MomenteBild: AP

"Modernes Wunder"

Im "Camp der Hoffnung" an der Bohrstelle wurden die Bergleute zunächst medizinisch untersucht, später sollen sie in eine Klinik geflogen werden. Viele hatten befürchtet, dass es in der engen Kapsel zu Panikattacken kommen könnte. Gerade Bergleute seien aber aufgrund ihrer Arbeit besser an dunkle, enge Räume gewöhnt, sagte Angstforscher Borwin Bandelow im Interview mit DW-WORLD.DE. "Sie sind in einem sehr guten Gesundheitszustand", informierte Gesundheitsminister Jaime Mañalich schon wenige Stunden nach Beginn der Rettungsaktion.

Bei aller Freude über die Rettung der Bergleute haben Psychologen darauf hingewiesen, dass die Folgen des traumatischen Erlebnisses erst später spürbar werden und die Männer noch lange begleiten könnten. "Nun wird der ganze Medienrummel über die Kumpel hereinbrechen", erklärt Bandelow, "da könnte es zu Zerwürfnissen, zu Neid oder zu Überforderung kommen."

Freude in Chile (Foto: AP)
"Chi Chi Chi Le Le Le", brüllte der zweite Gerettete Mario Sepúlveda. Immer mit im Bild: Chiles Staatspräsident Sebastian PiñeraBild: AP

Mehr als 1700 Journalisten warteten allein an der Unglücksmine auf die "Helden" aus der Tiefe. In den letzten zwei Monaten hatten Medien jede Kleinigkeit aus dem Leben der Verschütteten ausgegraben, sie druckten Liebesbriefe ab, veröffentlichten, welche Unterwäsche die Frauen am Tag der Bergung tragen und luden Angehörige ein, um in der TV-Show "Wer wird Millionär" um Geld für ihre Liebsten zu spielen.


Die Welt nahm Anteil an der Geburt der Tochter eines der Arbeiter, "Esperanza", und am Eifersuchtsdrama zwischen Frau und Freundin eines der Verschütteten. Die Kumpel erhielten bereits unter der Erde Interviewtraining, doch baten sie in einer gemeinsamen Erklärung, nicht von der Presse bedrängt zu werden.

Zwischen Himmel und Hölle

Der zweite Gerettete Mario Sepúlveda trat als einziger der Bergleute vor die Kameras: "Da unten war Gott und der Teufel. Gewonnen hat Gott", sagte er und bedankte sich beim Rettungsteam, dem Präsidenten und allen Menschen für ihre Solidarität. Es sei "außerordentlich", was die Retter geleistet hätten: "Ich bin sehr glücklich, hier oben zu sein." Die Rettungsaktion seit "einmalig in der Geschichte der Menschheit", erklärte Präsident Piñera, der selbst zu Tränen gerührt war.

Chiles Staatschef Pinera hält Botschaft in der Hand (Foto:AP)
"Es geht uns gut" - Chiles Präsident hält die Überlebens-Botschaft in die KamerasBild: AP

Seit der chilenische Staatschef am 22. August den Zettel mit der Überlebensbotschaft der Bergarbeiter in die Kameras hielt, sind seine Umfragewerte um mindestens zehn Prozentpunkte gestiegen. Es gibt nun auch Gerüchte, der Präsident habe mit Nachdruck darum gebeten, die Rettungsaktion noch vor dem 17. Oktober anzufangen, um so den aus der Tiefe geretteten Männern als erster zu gratulieren. Mitte Oktober tritt er eine längere Auslandsreise an, die ihn unter anderem auch nach Deutschland führen wird. Allerdings hatte Bergbauminister Laurence Golborne immer wieder betont, dass die Sicherheit und Gesundheit der Kumpel an erster Stelle stehe.

Für einen historischen Moment sorgte auch Carlos Mamani, der einzige Nicht-Chilene unter den Bergleuten. Mamani stammt aus Bolivien und als er um 08:08 Uhr (MESZ) aus der Rettungskapsel stieg, flattern ihm Dutzende rot-gelb-grüne Fähnchen zu. Der "Día D" ist auch ein historischer Schulterschluss zwischen Chilenen und Bolivianern. Die Beziehung zwischen den beiden Nachbarstaaten ist seit dem Salpeterkrieg (1879 bis 1884) immer noch gespannt: Damals verlor Bolivien seinen Meerzugang an Chile. Nun reiste auch Boliviens Präsident Evo Morales an, um Mamani später im Krankenhaus zu besuchen. Noch im Juni hatte der bolivianische Staatschef betont, die seit 48 Jahren unterbrochenen diplomatischen Beziehungen auf Botschafterebene könnten nur wieder aufgenommen werden, wenn die Frage des bolivianischen Pazifikzugangs geklärt sei.

Schuldfrage ungeklärt

Der Bolivianische Präsident Evo Morales an der San José Mine (Foto: AP)
Friedlich vereint - Boliviens Präsident Evo Morales und sein chilenischer AmtskollegeBild: AP

Ein halbes Jahr nach dem Trauma der Erdbebenkatastrophe hat der 13. Oktober die Nation Chile erneut zusammengeschweißt. Vom Jubel überdeckt ist noch die Frage: Wer trägt die Schuld am Unglück? 27 Angehörige der 33 Bergleute haben bereits vor einem Gericht geklagt, sie wollen Schadensersatz in Millionenhöhe sowohl vom Betreiber der Mine, der privaten Companía Minera San Esteban Primera, die jedoch kurz vor der Pleite steht, und vom chilenischen Staat selbst. Trotz Warnungen von der Bergbau-Gewerkschaft wurden Sicherheitsstandards immer wieder umgangen. Chile ist der weltweit größte Kupferproduzent und unter der Atacama-Wüste lagert ein großer Teil dieses Reichtums. Der Staat hat bereits angekündigt, den Bergbau in den kommenden Jahren noch weiter auszubauen und zu modernisieren. Bisher gibt es für die 844 Minen in der Region nur drei Inspektoren, Kontrollen und Sicherheitsstandards würden meist unterlaufen, heißt es von der Gewerkschaft.

Und so wurde die Unglücksmine San José, nachdem sie aus Sicherheitsbedenken 2007 geschlossen wurde, anderthalb Jahre später wieder geöffnet. Am 5. August stürzten dann an zwei Stellen die Zwischendecken ein und schlossen 33 Kumpel in 700 Meter Tiefe ein. 69 Tage harrten die "33" dort unten aus. "Ich war immer sicher, dass ich herauskomme und ich habe immer daran geglaubt, " sagte der zweite Gerettete Mario Sepúlveda kurz nach seiner Bergung. Schon jetzt ist das Drama in der Atacama-Wüste als "Wunder von Chile" in die Geschichte des Bergbaus eingegangen.

Autorin: Anne Herrberg (dpa, rtr, ap, afp)
Redaktion: Oliver Pieper

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