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Demokratiezustand mangelhaft

23. Oktober 2011

Deutschland tritt weltweit für die Demokratie ein. Allerdings haben im Land selbst viele Bürger den Eindruck, dass die Politik immer weniger demokratisch abläuft. Mehrere Autoren haben dazu jetzt Bücher veröffentlicht.

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Mitglieder des Bundestages sitzen in Berlin im Plenarsaal (Foto: dapd)
Das deutsche Parlament: Hier sollte Demokratie gelebt werdenBild: dapd

Die Zustandsbeschreibungen der gelebten Demokratie in Deutschland stimmen nachdenklich. Parteien schotten sich ab und entscheiden im kleinen Kreis, was geschehen soll. Selbst die Listen der Abgeordneten für das Parlament und hohe politische Ämter werden in verschworenen Runden ausgemacht. Nicht der oder die Beste gewinnt, sondern diejenigen, die am besten in der Partei vernetzt sind und keine Kritik üben. Selbst die eigenen Parteimitglieder bleiben vielfach bei den eigentlichen Entscheidungen außen vor und nicken die Ergebnisse des Parteivorstands oft nur noch ab. "Durchregieren" nennt sich das. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder habe das mit den umstrittenen Sozialreformen 2003 so gemacht und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel unlängst mit dem plötzlichen Ausstieg aus der Kernenergie, so fällt der Tenor dreier Buchautoren aus, die sich mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland beschäftigt haben.

Ein Teilnehmer (r.) einer Demonstration gegen die Macht der Finanzmaerkte trägt in Frankfurt am Main vor dem Gebäude der Europäischen Zentralbank (EZB) eine Maske in jenem Design, das typischerweise von Aktivisten des internationalen Netzwerks "Anonymous" getragen wird (Foto: dapd)
Jüngster Protest in Frankfurt gegen die Euro-PolitikBild: dapd

Die drei Autoren sind Christoph Giesa (Jahrgang 1980), langjähriges FDP-Parteimitglied und aktiver Unterstützer des Bundespräsidentschaftskandidaten Joachim Gauck im Jahr 2010. Claus Leggewie (Jahrgang 1950), Professor für Politikwissenschaften, Direktor des kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und Berater der Bundesregierung zum Thema "Globale Umweltveränderungen" und die Journalistin Julia Friedrichs (Jahrgang 1979). Fast alle Autoren kennen die Politik aus nächster Nähe.

Erkennbare Kluft zwischen Bürgern und Politik

Die drei Autoren beschreiben den politischen Alltag, in dem Politiker wie Bürger schon reflexartig von "die da oben" und "wir hier unten" reden. Es scheint eine unüberwindbare Kluft entstanden zu sein. Zum einen zwischen den Parteiführungen und den Parteimitgliedern. Die Kluft besteht aber auch zwischen jenen, die ihr Mandat auf Zeit vom Volk erhalten haben und jenen, die alle vier Jahre wählen dürfen. Im Wesentlichen liegen die Missstände an mangelnder Transparenz und fehlender Erklärung vieler politischer Vorgänge, schreiben die Schriftsteller.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle mit Kindern (Foto: apn)
Bundesaußenminister Guido Westerwelle - Wie will man die junge Generation noch erreichen?Bild: AP

Zwar steht in der deutschen Verfassung ausdrücklich: "Alle Macht geht vom Volk aus" und "Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit." Inzwischen geht in Deutschland aber alle Macht von den Parteien aus und die Bürger wirken noch hier und da an der Willensbildung mit. Eine fatale Verkehrung der Dinge, finden die Autoren. Tatsächlich ist die deutsche Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt gefragt worden, ob sie die Währung "Euro" überhaupt haben möchte und auch bei den aktuellen Bemühungen um immer neue Euro-Rettungsmaßnahmen bleibt dem Bürger lediglich, das "Herumrudern" der Politik zur Kenntnis zu nehmen. Bei öffentlichen Bauvorhaben zum Beispiel dürfen Bürger zwar die Planungen einsehen, die Sachverhalte sind für Laien aber unverständlich formuliert. Zudem sind die Widerspruchsfristen viel zu knapp bemessen, um einen Einspruch zu erheben, der auch von den Gerichten anerkannt werden kann.

Die Ideale werden aufgegeben

Bürger erleben die Politik entweder als undurchschaubar, zu langsam oder zu zerstritten. Über den Bau einer Straße wird jahrelang diskutiert und letztlich stehen dabei nicht einmal Sachfragen im Vordergrund, sondern Machtfragen von Amtsträgern. Die Buchautoren sprechen von einer "Postdemokratie", einer Situation, in der demokratische Strukturen zu verkommen drohen. Dabei wird als besonders enttäuschend empfunden, dass viele politisch Handelnde im Laufe ihrer Karriere, ihre eigentlichen Ideale mit der Zeit aufgeben. Dabei waren es einmal Ideale, für die sie standen und für die sie auch gewählt wurden. Der anstrengende Alltag habe sie zerrieben und vor Augen geführt, dass nur wenig zu bewegen sei, erklären die Betroffenen dazu.

Die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs (Foto: dpa)
Die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs: "Wer für seine Ideale eintritt, ist in der Gesellschaft isoliertBild: picture-alliance/ZB

Die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs hat sich die Mühe gemacht und ist quer durch Deutschland gereist, auf der Suche nach Idealen. Mit vielen Menschen hat sie sich unterhalten, welche Werte für sie wichtig sind und wie es ist, an bestimmten Werten festzuhalten. Ihre bittere Erkenntnis: "Wer konsequent für seine Ideale eintritt, ist in der Gesellschaft isoliert und bleibt Außenseiter." Das erkläre auch, warum sich viele prominente Politiker verändert hätten. Friedrichs befragte unter anderen den deutschen Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Seine Einschätzung hält sie für richtungweisend: "Wir werden als Gesellschaft nicht überleben können, wenn wir nicht wieder zu einem solidarischen Verhalten zurückfinden."

Trotz allem mehr Mut- als Wutbürger

Gegen politische Entscheidungen bleibt dann oft nur noch die Demonstration. Weil Proteste in Deutschland immer häufiger werden, ist hier ein neuer Begriff geprägt worden. "Der Wutbürger" macht den politisch Verantwortlichen jetzt Angst. Aber die Autoren zeigen in ihren Analysen auf, dass eine Radikalisierung nicht wirklich stattfindet. Zahlen jüngster Umfragen werden dazu genannt. Danach sind 69 Prozent für die parlamentarische Demokratie. Nur 25 Prozent halten Parteien für überflüssig und setzen auf reine Bürgerbewegungen. Aber fast alle Befragten sind mit der Art und Weise, wie Demokratie ausgeübt wird, nicht mehr einverstanden. Die überwiegende Mehrheit - 85 Prozent - meint, dass Bürger mehr von ihren eigenen Angelegenheiten verstehen, als Politiker ihnen zutrauen.

Claus Leggewie, Direktor des KWI, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Gießen (Foto: KWI)
Claus Leggewie: "Eine reine 'Dagegen-Politik' hilft nicht."Bild: KWI/Volker Wiciok

Claus Leggewie spricht sich in seinem Buch "Mut statt Wut" für eine positive Teilnahme an der Demokratie aus. Eine reine "Dagegen-Politik" verbaue viele Chancen, lautet sein Argument. Leggewie weiß auch, wie man Enttäuschungen in der Politik vermeidet. "Man muss sich im Klaren sein, dass alle Veränderungen lange dauern." Und: "Man darf auf keinen Fall von ein paar faulen Äpfeln gleich auf eine schlechte Gesamternte schließen." Auch Christoph Giesa beschreibt in seinem Buch "Bürger.Macht.Politik" nicht nur Missstände. Er führt auch auf, wo und wie der Bürger aktiv mitreden kann. Sein Fazit: "In Deutschland kommt eine Weiterentwicklung der Demokratie in Fahrt."

Die Parteien scheinen das Problem erkannt zu haben und versuchen nun verstärkt interessierte Bürger, die nicht Mitglied einer Partei sind, als sachkundige Mitbestimmer in Entscheidungen einzubeziehen. Das geschieht aktuell bei der Aufstellung von Haushaltsplänen vieler Städte und Gemeinden. Bürger schlagen dabei vor, wo nach ihrer Meinung gespart werden und wofür vielleicht mehr Geld ausgegeben werden soll. Der Bundespräsident hat dazu eingeladen, an einem Bürgerforum teilzunehmen. Über 500 Möglichkeiten werden diskutiert, wie man sich erfolgreich in die Politik einmischen kann. Viele Vereine haben sich gebildet. Zum Beispiel "Die Netzdemokraten e.V." und "Mehr Demokratie e.V." Auch das gehört zur Wirklichkeit in Deutschland: Oftmals wissen viele Bürger gar nicht um ihre Möglichkeiten. Es mangelt an Information. Trotz allem hat sich die Zahl der Engagierten in Bürgerinitiativen in den letzten fünf Jahren fast verdoppelt.

Autor: Wolfgang Dick
Redaktion: Arne Lichtenberg