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"Denunziation ist abscheulich"

6. Juli 2004

- Kommentar des Chefredakteurs der Zeitung "Gazeta Wyborcza" Adam Michnik zu der Aktion "Letzte Chance" des Wiesenthal-Zentrums in Polen

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Warschau, 24.6.2004, GAZETA WYBORCZA, poln.

"Ich äußere mich kurz. Jeder Bürger, der Kenntnisse über Verbrechen gegen die Menschlichkeit besitzt und den Namen des Verbrechers kennt, ist verpflichtet, eine Anzeige bei den entsprechenden Staatsorganen zu erstatten. Wenn er aber seine Kenntnisse über 60 Jahre hindurch verheimlicht, macht er sich selbst zum Verbrecher oder zumindest begeht er ein moralisches Verbrechen.

Die Aktion des Wiesenthal-Zentrums kann jedoch dazu führen, dass eine verbrecherische oder eine unmoralische Tat mit einer finanziellen Belohnung ausgezeichnet wird. Solch einen Zustand bewerte ich als sehr anstößig und abscheulich.

Mehr noch: Die Aktion "Letzte Chance" stellt eine große Gelegenheit für Denunzianten dar, die für eine finanzielle Belohnung fähig sind, falsche Beschuldigungen auszusprechen. Für viele Leute kann dies auch eine gute Gelegenheit sein, "alte Rechungen zu begleichen". Eine solche Anzeige reicht nämlich völlig aus, um den Beschuldigten im moralischen Sinne ins Abseits zu stellen und seinen Ruf zu schädigen. "Ich werde dich zuerst beschuldigen und du musst dann beweisen, dass du kein Kamel bist", pflegten wir während der Zeit der kommunistischen Diktatur zu sagen - und für mich ich das immer noch aktuell.

Schließlich: Es handelt sich dabei um alte Menschen. Die jüngsten Beschuldigten dürften jetzt etwa 80 Jahre alt sein. Der Anblick der Beschuldigten auf der Anklagebank kann nur Mitleid erregen sowie traurige Gedanken über die Härte der Rächer hervorrufen.

Zum Schluss: Ich hatte einen Traum: Ich träumte, dass das Wiesenthal-Zentrum sich an die gesellschaftlichen Gruppen und an Institutionen in anderen Ländern wendet, um alle Verbrecher gegen die Menschlichkeit nach denselben Regeln zu verfolgen. Ich träumte, dass das Wiesenthal-Zentrum sich nach 60 Jahren nicht ausschließlich nur auf jüdische Opfer in Osteuropa beschränken wird, und dass ein ermordeter Pole nicht weniger wert ist als ein ermordeter Jude. Ich träumte, dass zum Beispiel Juden, die unter Stalin ermordet wurden, genauso viel Erinnerung verdienen, wie Juden, die unter Hitler ermordet wurden. Ich überlege, ob diese Hotline auch in Moskau errichtet wird, um Opfer der stalinistischen Säuberungsaktionen zu finden und die Täter zu denunzieren?

In einem hat Dr. Efraim Zuroff absolut Recht behalten: Sein Appell wurde durch Fernsehstationen ausgestrahlt und darüber wurde auch auf den Titelseiten der Zeitungen berichtet. 10 000 Euro - das ist in vielen Ländern sehr viel Geld. Viele Menschen könnten dieses Geld haben wollen, aber ist es wirklich Wert, alles nur mit Geld zu bezahlen? (siehe auch Monitor-Dokumentation vom 17.6.2004) (sta)