1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Estland schrumpft

Christoph Kersting21. Oktober 2012

Trotz positiver Wirtschaftsdaten ist die Lage in Estland schwierig. Vor allem niedrige Löhne und Renten bei gleichzeitig steigenden Preisen machen den Esten zu schaffen. Viele verlassen deshalb ihre Heimat.

https://p.dw.com/p/16QtP
Burgturm mit Estlands Nationalflagge (Foto: Fotolia.com)
Bild: indrekgaletin/Fotolia

Ein Lager für gebrauchte Autoteile in der Kleinstadt Keila, eine halbe Autostunde westlich der Hauptstadt Tallinn: In drei Meter hohen Regalreihen türmt sich das Innenleben von ausgeschlachteten Autos: Stoßdämpfer, Motorteile, Autotüren. Scheppernde Radiomusik mischt sich mit den Stimmen der Arbeiter, es riecht nach Öl und Benzin. In einem Werkstattraum im hinteren Teil des Lagers hockt Demis Voll mit einem Kollegen im Fond eines Autowracks. Die beiden Männer wollen die Vordersitze des Wagens ausbauen, da hilft nur rohe Gewalt: Die Sitze haben sich bei einem Auffahrunfall verkeilt und lassen sich nur schwer lösen. 16 Kollegen seien sie im Lager, erzählt Demis Voll in seiner Frühstückspause. Sein Job sei sicher, doch dafür fährt der 35-jährige Familienvater auch täglich 100 Kilometer nach Keila. “Wir leben auf dem Land östlich von Tallinn, aber auf dem Land gibt es keine Jobs, da kann man auf einem Bauernhof arbeiten, sonst nichts.“ Gute Jobs gebe es nur in Tallinn, Tartu oder Pärnu, den größten Städten des Landes.

Westliche Preise

1300 Euro netto verdient Demis, plus 400 Euro, die seine Frau mit nach Hause bringt. Das ist nicht schlecht für estnische Verhältnisse. Vor allem Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst, Lehrer etwa, müssen mit 500 bis 600 Euro monatlich über die Runden kommen – das ist fast unmöglich geworden, denn die Preise für Mieten und Lebensmittel nähern sich westeuropäischem Niveau an. Deshalb wollen immer mehr Menschen weg aus Estland, auch Demis Voll: “Ich plane nach Finnland zu gehen, vor allem, weil ich Anspruch auf eine finnische Rente erhalte, wenn ich dort fünf Jahre gearbeitet habe.“ In Finnland sei einfach alles besser: das Gesundheitswesen, Sozialleistungen, Arbeitsbedingungen. Außerdem spricht Demis gut Finnisch.

Helsinkis Südhafen mit Stadthaus und Dom
Finnlands Hauptstadt Helsinki: Hier wollen viele Esten leben und arbeitenBild: picture alliance/Bildagentur Huber

Finnland ist das bevorzugte Ziel vieler Esten, die ihre Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Kein Wunder: Nur 80 Kilometer und zwei Stunden mit der Fähre trennen die beiden Hauptstädte Tallinn und Helsinki, die im Volksmund häufig zu “Talsinki“ verschmelzen. Und auch sonst sind und waren sich Esten und Finnen immer schon nah: Finnisch und Estnisch gehören beide zur finno-ugrischen Sprachenfamilie. Inzwischen haben estnische Staatsbürger die russischen Immigranten sogar als größte Ausländergruppe in Finnland abgelöst: Knapp 40 000 Esten leben und arbeiten vor allem im Großraum Helsinki, 100 000 sollen es nach Schätzungen in allen nordischen Ländern sein.

"Brain Drain" im medizinischen Bereich

Den Schritt, den Demis Voll noch plant, hat Annika Funu-Cracker schon hinter sich. Die estnische Krankenschwester arbeitet schon seit einigen Jahren in einem Krankenhaus der finnischen Hauptstadt Helsinki und hat ihre Entscheidung nie bereut, erzählt sie auf der Fähre in Richtung Tallinn. Dort will sie gemeinsam mit Sohn Johann ihre Eltern besuchen. “Ich habe in Estland rund 600 Euro verdient, in Finnland bekomme ich mindestens das Dreifache“, berichtet Annika. Vor allen Dingen im medizinischen Bereich sei die Abwanderung heute ein echtes Problem in Estland: Ärzte und Krankenschwestern werden gut ausgebildet und verlassen dann das Land für immer, “weil du einfach zu wenig verdienst zu Hause. Wir jedenfalls werden sicher nicht zurückgehen, wir planen eher noch, von Finnland nach Kanada zu ziehen.“

Estnische Euromünze (Foto: Alexei Olis'ko)
Schwer verdient, schnell ausgegeben: Estnische EuromünzeBild: picture-alliance/dpa

Tatsächlich ergab die jüngste estnische Volkszählung im Frühjahr ein alarmierendes Bild: Erstmals ist die Bevölkerungszahl unter 1,3 Millionen gesunken, seit Anfang der 90er Jahre hat die kleine Baltenrepublik knapp 18 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Auch der Regierung sei die Tragweite der Emigration bewusst, erklärt der estnische Finanzminister Jürgen Ligi in seinem Tallinner Büro: “Das ist ja überall ein Problem in Europa. Es geht aber nicht nur um Auswanderung. Unsere Familien haben einfach zu wenig Kinder.“ Hinzu komme, dass Estland in den 90er Jahren sehr radikale marktwirtschaftliche Umwälzungen zu bewältigen hatte, auch das habe zu Abwanderungen geführt.

Estland: Musterknabe in Europa

Viele seiner Landsleute verlassen ihre Heimat, und dennoch hat Finanzminister Ligi zahlreiche Argumente auf seiner Seite. Zwar ließ die globale Krise 2009 auch Estland nicht ungeschoren. Doch dank eiserner Haushaltsdisziplin und Sparpolitik gilt das Land schon jetzt wieder als Musterknabe in Europa: 2011 wuchs die Wirtschaft um satte 7,6 Prozent. Und während die Staatsverschuldung der gesamten Eurozone im selben Jahr bei 82 Prozent lag, konnten die Esten auf den fast schon traumhaften Wert von nur sechs Prozent Staatsverschuldung verweisen. Nirgendwo sonst sank die Arbeitslosenquote in der EU so stark wie in Estland: von 19 Prozent im Jahr 2010 auf aktuell 11 Prozent.

Estlands Finanzminister Jürgen Ligi (Foto: Bernd Riegert/DW)
Estlands Finanzminister Jürgen LigiBild: DW

Doch von positiven Wirtschaftsdaten können sich die Menschen nichts kaufen, der Durchschnittslohn der Esten liegt bei 800 Euro, Rentner bekommen im Schnitt 320 Euro pro Monat. Demis Voll jedenfalls streut auch weiterhin über Facebook, dass er einen Job in Finnland sucht. Zwei Angebote hatte er schon, demnächst nimmt er die Fähre nach Helsinki, um sich vor Ort ein Bild zu machen: “Es wird ja immer viel über Estland als IT-Standort gesprochen – E-Stonia – aber eine echte Zukunft sehe ich darin nicht.“ Wichtig sei doch, dass Estland einen gewissen Wohlstand erreiche. Doch da ist Demis eher pessimistisch. “Das Leben in der Provinz wird sterben. Ich jedenfalls würde auch für immer weggehen, wenn sich die Möglichkeit bietet. Mich hält hier nichts in Estland, absolut nichts."