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Der Bart ist ab, die Stoppeln wachsen

Günter Knabe18. November 2001

Mit dem überraschend schnellen Zerfall des Taliban-Regimes ist noch keines der Probleme des Vielvölker-Staates Afghanistan gelöst. Ein Kommentar von Günter Knabe.

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Der rapide Zerfall der Macht der Taliban ist auf jeden Fall erfreulich. Die Hoffnung keimt auf, dass die Kämpfe am Hindukusch bald zu Ende sein könnten und auch die Militärschläge der Amerikaner. Das Tempo des Machtverfalls des Taliban-Regimes verursacht aber auch eine große Sorge.

Die Machtverhältnisse in Afghanistan sind nämlich noch keineswegs geklärt und Aussicht auf eine stabile Regierung und arbeitsfähige Verwaltung gibt es auch noch nicht. Die Einnahme Kabuls durch die Nordallianz macht die Lösung der sehr komplizierten politischen Probleme Afghanistans erheblich schwerer. Nur widerwillig und gegen einen hohen Preis werden ihre Mitglieder bereit sein, andere an der Regierungsmacht zu beteiligen - auch wenn sie jetzt beteuern, alle Kräfte Afghanistans außer den Taliban sollten an der Herrschaft teilhaben.

Alle Pläne und Projekte, die von anderen Staaten oder internationalen Organisationen entworfen und beschlossen werden, und auch die vielen hehren Ziele und Pläne, die von Exil-Afghanen in Rom, in den USA oder in Deutschland erdacht werden, sind zunächst einmal nichts als gut gemeinte Theorie. Denn die alten Probleme des Landes sind mit dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes keineswegs beseitigt. Auf den Punkt gebracht: Der Bart ist ab, doch die Stoppeln wachsen wieder.

Die Nordallianz besteht aus Tadschiken, Usbeken und Hasaras. Und kaum sind sie in Kabul eingerückt, werden schon wieder die alten Linien gezogen. Den größten Teil der Hauptstadt kontrollieren tadschikische Milizen. Im Süden haben zwei Strömungen der schiitischen Hasara-Minderheit das Sagen. Es besteht die Gefahr, dass die alten Rivalitäten zwischen ihnen und den anderen Stämmen und Völkerschaften beim geringsten Anlass wieder aufflammen.

Um so dringender ist es, dass in Kabul eine zivile Verwaltung geschaffen wird als Vorstufe zu einer Regierung für ganz Afghanistan. Dazu müssen alle Volksgruppen und Machthaber Kompromisse schließen. Dieser Prozess wird schwierig und langwierig.

Alle Pläne, in Afghanistan politische Normalität und Stabilität zu sichern, haben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie auf den immer noch vorhandenen traditionalen afghanischen Strukturen aufbauen. Und das sind nun einmal der Einfluss und die Macht der Dorfältesten, der Stammesführer und - nach mehr als zwei Jahrzehnten Krieg - der Kommandanten. Dann gibt es da noch die Institution der Loya Dschirgah, das ist der Paschtu-Name für die große Nationale Versammlung aller führenden Kräfte. Sie alle müssen herangezogen werden bei der Suche nach politischen Lösungen der Probleme in Afghanistan. Erst wenn sie Vorschläge akzeptieren, können diese auch im ganzen Lande durchgesetzt werden.

Vordringlich aber ist es jetzt, für Sicherheit und Ordnung in Kabul und allen anderen Städten und Regionen Afghanistans zu sorgen, aus denen sich die Taliban zurückgezogen haben. Wenn die Afghanen dies alleine erkennbar nicht schaffen, muss schnellstens eine internationale Sicherheitstruppe aufgestellt und in Afghanistan eingesetzt werden. Eine solche internationale Ordnungstruppe muss auch der besonders dringenden und besonders heiklen Aufgabe gewachsen sein, die immensen Mengen Waffen im ganzen Lande einzuziehen.

In allen Gebieten, in denen nach Rückzug der Taliban die Waffen schweigen, muss sofort materielle Hilfe zum Überleben der Bevölkerung geleistet werden. Niemand wird dort die Amerikaner und alle ihre Bündnispartner in der "Koalition gegen den Terrorismus" daran hindern, die Menschen sofort mit Nahrung, Kleidung und Medikamenten zu versorgen. Der Anfang des bevorstehenden Fastenmonats Ramadan wäre gut für den Beginn einer solchen internationalen "Allianz gegen das Elend" in Afghanistan.