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Der eingebildete Kranke

24. August 2003

Haben Sie nicht auch das Gefühl, manchmal am "Sick Building Syndrome" zu leiden? Oder plagen Sie der "Mousepadfinger" und "Restless Legs"? Dann könnte es vielleicht sein, dass Sie noch nie richtig krank waren ...

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Operation GesundheitBild: BilderBox

Leichte, vor allem gänzlich neue Beschwerden machen interessant und sexy. Und von dem Trend, mit körperlich nicht allzu bedrohlichen Krankheiten Aufmerksamkeit zu erzielen, lebt inzwischen eine ganze Industrie. Das behauptet zumindest der Freiburger Mediziner und Wissenschaftsjournalist Werner Bartens. Prompt hat er heftige Verbalattacken von Patienten, Ärzten und der Pharmalobby provoziert.

Wer's braucht ...

Was sind die Symptome anderes als die ganz normalen Belastungen des Alltags – umgedeutet in ein elendiges Leiden, fragt Bartens nicht ohne Sarkasmus. "Die Bereitschaft, Leid und Entbehrung als Teil unserer Existenz hinzunehmen, ist gesunken", erklärt er lakonisch. Wer als Ausgleich auf der Suche nach passenden Beschwerden ist, kann sie in Bartens' Buch "Was hab ich bloß? - Die besten Krankheiten der Welt" finden. In augenzwinkernden "Beipackzetteln" führt er darin die "Vor- und Nachteile" solcher Krankheiten für die Betroffenen an.

Wem's hilft ...

Die zahllosen Selbsthilfegruppen für x-verschieden viele Beschwerden sind Bartens ein Dorn im Auge. Sie sorgten dafür, dass einzelne psychosomatischen Krankheiten eine öffentliche Beachtung erreichen, die in keinem Verhältnis zu ihrer gesundheitlichen Bedrohung stehen. "In Freiburg hat sich eine Selbsthilfegruppe für 'Schreikinder' gebildet", nennt Bartens ein Beispiel. Zwar schreie jedes Kind - mal mehr, mal weniger - aber das spiele doch keine Rolle, so lange man nur eine prima Gruppe bilden könne, die vor allem eins tut: darüber reden.

Wer's glaubt ...

Immer neue Krankheiten sind in den letzten Jahren aufgetaucht - und das nicht nur in Deutschland: Das Zappelphilipp-Syndrom bei unruhigen Kindern, die Wechseljahre des Mannes, ja sogar ein "Käfig-Tiger-Syndrom" soll es geben. Angeblich leiden darunter 20 Prozent aller jungen Familienväter. Doch diese Krankheit ist - wie etliche andere - nur eine Erfindung der Industrie, meint auch Medizinjournalist Jörg Blech. Denn leider hat sich das "Käfig-Tiger-Syndrom", für das Unruhe und Entscheidungsschwierigkeiten symptomatsich sein sollen, nie wirklich durchsetzen können. Und folglich bleibt das Johanniskraut unangetastet im Apothekerregal stehen.

Wem's fehlt ...

Auch Ärzte sind neuen Krankheiten gegenüber offenbar sehr aufgeschlossen, wie Bartens in seinem Buch amüsant schildert: "Ein Mediziner hatte in einem Fachblatt zum Scherz eine 'Generalisierte Heiterkeitsstörung' als neue Krankheit beschrieben. Eigentlich wollte er damit nur die Wachsamkeit der Kollegen testen. Stattdessen bekam er zum Teil empörte und vor allem ernst gemeinte Reaktionen von Medizinern, die für die beschriebene Störung bei ihren Patienten ganz andere Symptome gefunden hätten."

Rein statistisch melden sich immer mehr Menschen mit psychosomatischen Symptomen als Patienten. "Zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschen aller Altersgruppen in Deutschland leiden inzwischen an Erkrankungen, die medizinisch schwierig zu beschreiben sind", sagt der Sprecher der Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Roland Stahl. Über die Gründe gibt es nur vage Vermutungen. "Zum einen kapitulieren einige vor den Anforderungen der Leistungsgesellschaft. Zum anderen zeigt sich an der Empfindlichkeit mancher das soziologische Phänomen, möglichst alle Lebensrisiken abzusichern." (arn)