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Der ESC-Check

Silke Wünsch & Rick Fulker19. Mai 2015

Wer kann sich auf die vordersten Plätze katapultieren? Und wer schafft es nicht mal ins Finale? Unsere ESC-Reporter haben sich vorab ein Bild gemacht, sich nicht abgesprochen und bewusst alle Prognosen ignoriert.

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Sängerin Nina Sublatti (Foto: EPA/GEORG HOCHMUTH)
Sängerin Nina Sublatti tritt für Georgien anBild: picture-alliance/dpa/G. Hochmuth

40 Songs, zwei Musikredakteure und eine Aufgabe: Rick Fulker (Experte für klassische Musik) und Pop-Redakteurin Silke Wünsch sollten ihre persönlichen Favoriten und Flops ermitteln. Sie haben die Teilnehmersongs des Eurovision Song Contest auf Herz und Nieren geprüft. Die Kriterien: Komposition, Stimme, Performance und Glamour-Faktor.

Silke: Auch beim ESC findet immer noch gute Musik statt. Allerdings muss man lange suchen. Hier sind meine Top 3:

Platz 3: Russland

Weg mit der Politik! Weg mit Ressentiments und Vorurteilen! Die Russin Polina Gagarina ist einfach eine Granate. Sie sieht fantastisch aus und singt exorbitant gut. "A Million Voices" ist eine Powerballade mit viel Tamtam, bombastischen Streichern und der Aussage, dass alles gut wird, wenn alle zusammenhalten. Was diese Ballade aber von den unzähligen anderen abhebt, ist die Fröhlichkeit, die in ihr steckt, sie kommt ganz ohne Pathos und angestrengte Leidenschaft aus. Sie hat tatsächlich Ohrwurmcharakter – das wird auch dem Publikum aus den östlichen Teilnehmerländern gefallen. In diesem Fall werde ich nicht böse sein, wenn sie sich gegenseitig wieder die Punkte zuschieben und Polina unter die Top Ten befördern.

Platz 2: Österreich

Größer kann ein Kontrast nicht sein: Letztes Jahr sang sich Conchita Wurst mit einer Bombasto-Ballade in die Herzen der ESC-Fans. Dieses Jahr kommt das Trio The Makemakes mit einer hübschen Soulballade daher, ganz ohne Allüren und Effekthascherei. Der Sänger, übrigens mit mehr Bart als Conchita, überzeugt mit kraftvoller Bluesstimme und unaufgeregter Performance. Dass der Flügel in der Vorrunde brennen musste, ist mir allerdings ein Rätsel. Hoffentlich verzichtet das Trio in Wien auf solche Gimmicks. Das ESC-Publikum werden sie auf jeden Fall erfreuen - so eine Soulnummer kommt immer gut an, wenn auch nicht ganz oben. Dazu kommt noch der Gastgeberbonus. Beides könnte "I'm Yours" im Finale einen Platz unter den ersten 12 bescheren.

The Makemakes vertreten beim Eurovision Song Contest Österreich (Foto: APA/GEORG HOCHMUTH)
The Makemakes vertreten ÖsterreichBild: picture alliance/APA/picturedesk.com

Platz 1: Norwegen

Ausgerechnet eine Ballade! Aber was für eine! Bei "A Monster Like Me" stimmt einfach alles. Die Komposition, der Aufbau des Songs, die Dynamik, der Einsatz der - durch die Bank natürlichen - Instrumente. Die Melodie, die Zusammenstellung der beiden Stimmen: Mørland & Debrah Scarlett. Beide sind in Norwegen große Stars - das ganze Land steht hinter den beiden, ich tue es auch und wünsche dem Paar den ersten Platz. Das Publikum wird das wahrscheinlich nicht so sehen. Aber eine Platzierung unter den Top Ten sollte drin sein.

Federkleid, Steichorchester und wütende Amazonen - Silkes "Flop 3":

Platz 3: Georgien

Hilfe! Ich werde von einem Vamp angeschrien! Nina Sublatti hat mit ihrem selbstgeschriebenen "Warrior" die Herzen ihrer georgischen Landsleute erobert. Meins nicht. In dem Song kracht und rumpelt es, sie brüllt sich die Seele aus dem Leib und guckt böse (zu sehen im Bild oben). Der Nerv-Faktor ist riesig, der Glamour-Faktor ist allerdings auch nicht zu vernachlässigen. Sicherlich wird das einer der fulminantesten Auftritte beim Finale - genau das, auf was das Publikum aus den östlichen Teilnehmerländern offenbar steht: Leicht bekleidete Amazonen werden mit Pfeil und Bogen auf der Bühne herumhopsen, mittendrin die Sängerin, unterstützt von Windmaschinen und allerhand Pyrotechnik. Meine Prognose: mittlere Platzierung.

Sängerin Nina Sublatti (Foto: EPA/GEORG HOCHMUTH)
Startet für Georgien: Nina SublattiBild: picture-alliance/dpa/H. Fohringer

Platz 2: San Marino

Erste Reaktion: Ratlosigkeit. Zweite Reaktion: Entsetzen. Das jugendliche Duo Anita Simoncini & Michele Perniola wird von dezenten elektronischen Drums und einem Streichorchester begleitet, Michele haucht mich anfangs etwas verhuscht an, bis er mit zittriger Stimme auf die Erlösung durch seine Partnerin zusingt. Die trällert weiter und erschreckt mich mit einem komischen Melodiebogen – gewollt oder kann sie es nicht besser? Den Refrain von "Chain of Lights" kann ich direkt mitsingen, so oft habe ich diese Harmonien schon gehört. Es erstaunt mich nicht weiter, dass der Komponist dieser Plattitüde Ralph Siegel heißt. Auf der Bühne werden die beiden dennoch hübsch aussehen, zwischen Kerzen und dem obligatorischen Streichorchester. Trotzdem dürften wir hier mit wenig Glamour und ebenso wenig Punkten rechnen.

Komponist Ralph Siegel (Foto: Joerg Carstensen/dpa)
Ralph Siegel hat den Song für San Marino geschriebenBild: picture-alliance/dpa/J. Carstensen

Platz 1: Schweiz

Was ist denn hier passiert? Die Sängerin Mélanie René steht mit einem Federkleid und schwarz umrandeten Augen im Wald und singt von der Suche nach sich selbst. "Time to Shine" ist der Titel dieser überaus schwachen Popballade mit rockigen Einschlägen. Laute Drums und eine verzerrte Gitarre sollen womöglich von der eher durchschnittlichen Gesangsstimme ablenken - das klappt nicht wirklich. Sicher wird Mélanie auf der Bühne viele Federn und Fransen tragen, die, angeblasen von einer Windmaschine, ordentlich um sie herumwehen. Daher wird der Auftritt wenigstens etwas fürs Auge. Den Ton sollte man abschalten. Im Finale wird uns dieser Song wohl nicht mehr ereilen.

Sängerin Mélanie René aus der Schweiz (Foto: APA/ROBERT JAEGER)
Rock im Federkleid: Mélanie René aus der SchweizBild: picture-alliance/APA/picturedesk.com/R. Jäger

Rick: Beim ESC an vorderster Front zu sein, das macht Spaß. Auch, wenn ich mir das nie hätte vorstellen können und auch, wenn ich mit meinen Prognosen daneben liegen sollte. Und ich unterstreiche: Silke und ich haben bislang kein Wort über die Beiträge ausgetauscht. Hier sind meine Top 3:

Platz 3: Lettland

Haben die Letten etwas im Trinkwasser, was die Musikalität fördert? Nicht nur zwei Top-Klassikdirigenten (Mariss Jansons und Andris Nelsons) kommen aus dem kleinen, baltischen Land, sondern auch eine viel versprechende ESC-Kandidatin: Aminata Savadogo. Die ersten Takte von "Love Injected", mit sanften R&B-Rhythmen und etwas fiepsiger Stimme, erzeugen eine Spannung, die sich im großen Refrain mit ausladender Gesangspartie entlädt. Die konsequent durchgehaltene rot-schwarze Farbmotivik im Video tut ihren Teil zur Wirksamkeit des Songs dazu. Musikalische Bewertung: Top Five. Prognose nach ESC-Gesetzmäßigkeiten: ebenfalls.

Ann Sophie - Deutschlands Kandidatin beim Eurovision Song Contest

Platz 2: Deutschland

Musik durchströmt diese Frau! Ich habe im TV verfolgt, wie verdutzt Sängerin Ann Sophie bei ihrem Überraschungssieg im deutschen Vorentscheid war, nachdem der eigentliche Sieger abgelehnt hatte. Für einen Augenblick perplex, erlangte Ann Sophie schnell wieder Fassung in der Situation, mit der niemand gerechnet hatte. Ihre Spontanität und ihr Charme erinnern an Lena Meyer-Landrut, die 2010 die Trophäe für Deutschland geholt hat. Ann Sophies Song "Black Smoke" ist schmissig. Hat sie Chancen? Könnte der Preis zweimal innerhalb von fünf Jahren an ein Land gehen, das durch eine junge Frau mit dunklen Augen und natürlichem Charisma vertreten wird? Musikalische Bewertung: Top Ten. Prognose nach ESC-Gesetzmäßigkeiten: Top Twenty.

Platz 1: Großbritannien

Bei so vielen englischsprachigen Beiträgen im ESC: Was kommt denn von der Insel? Pure Fun und eine intelligente Aufmachung im Hollywood-Stil der 20er Jahre - performt vom Duo "Electro Velvet". Der Text von "Still in Love With You" ist verständlich und witzig. Das Video bietet viel fürs Auge und keine Sekunde Leerlauf. Sogar der Text bringt ein klein wenig Beschäftigung fürs Gehirn. Und nachdem der Song zu Ende ist, klingt der Refrain im Kopf nach. Glamour ist auch hier reichlich vorhanden. Musikalische Bewertung: Top Five. Prognose nach ESC-Gesetzmäßigkeiten: obere Hälfte.

Das Duo "Electro Velvet" aus Großbritannien (Foto: DW/Andreas Brenner)
Melodisches Duo aus Großbritannien: "Electro Velvet"Bild: DW/Andreas Brenner

Konfettisturm, Farbenmeer und Dackelaugen - Ricks "Flop 3":

Platz 3: Portugal

Eine singende Schönheit mit Dackelaugen ist zu sehen und eine Stimme mit gelegentlichen Bluesnuancen zu hören. Dennoch klingt das Ganze ein wenig angestrengt: Leonor Andrade muss sich in "Há um Mar que nos Separa" sichtbar und hörbar ein bisschen zu sehr nach oben strecken. Dennoch ist es erfrischend, etwas in einer Landessprache zu hören. Den Mut der Portugiesen muss man deshalb loben. Wer den Liedtext nicht versteht: Es geht im Song um das Austrocknen des Meeres, das zwischen der Sängerin und ihrer Liebe liegt. Irgendwann einmal war es sogar Pflicht, dass jedes Land etwas in der eigenen Sprache anbietet. Das hat nicht lange gehalten. Die ESC-Bestimmungen wechseln ständig. Hier ein Plädoyer für die Wiedereinführung der Regel. Musikalische Prognose: durchaus hörbar. Deshalb: oberes Viertel. Prognose nach ESC-Gesetzmäßigkeiten: wegen des portugiesischen Textes: keine Chance.

Platz 2: Russland

Glamour pur mit einer überaus schönen, blonden Sängerin. Dazu viele Bilder von strahlend lächelnden Kindern und Senioren. Das aufwändig produzierte Video zum Lied von Polina Gagarina schwimmt in einem Bad von Farben. Die Botschaft von "A Million Voices" scheint sehr allgemein - das ist an sich nichts Böses. Sie wirkt allerings so, als würde das politisch isolierte Land mit aller Gewalt zeigen wollen: "Guckt mal, wir sind genauso wie ihr!" Ein Eindruck drängt sich auf: Es wurde hier ein wenig zu viel am grünen Tisch berechnet. Musikalische Prognose: wegen der faden Komposition und der Durchschnitts-Stimme von Polina Gagarina: untere Hälfte. Prognose nach ESC-Gesetzmäßigkeiten: obere Hälfte.

Die russische Sängerin Polina Gagarina (Foto: EBU/Andreas Putting)
Glitter für den Sieg: Polina Gagarina aus RusslandBild: EBU/Andreas Putting

Platz 1: Griechenland

ESC-Kost von der gähnend langweiligsten Seite: strömende Lichtkegel, ein Konfettisturm, eine schöne Blondine und ein Lied, das nichts aussagt und von dem nichts in der Erinnerung zurückbleibt. 40.000 Kandidaten bei Fernseh-Castingshows in Deutschland allein können das genauso gut machen wie Maria Elena Kyriakou in "One Last Breath". Wie viele sind es denn europaweit? Ich möchte das am liebsten nicht erfahren. Musikalische Bewertung: unteres Viertel. Prognose nach ESC-Gesetzmäßigkeiten: irgendwo mittig.