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Der IS-Rückkehrer Harry S.

Vera Kern22. Juni 2016

Drei Monate kämpfte er in Syrien, jetzt muss sich ein mutmaßlicher IS-Rückkehrer in einem Prozess in Hamburg verantworten. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

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Prozessauftakt gegen mutmaßliches IS-Mitglied am Hamburger Oberlandesgericht (Foto: picture-alliance/dpa/B. Marks)
Bild: picture-alliance/dpa/B. Marks

Der Angeklagte Harry S. räumte zum Prozessauftakt alle Vorwürfe im Wesentlichen ein. Ausführlich berichtete der ehemalige IS-Anhänger, was ihn dazu bewogen hatte, sich der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in Syrien anzuschließen. Er muss sich vor dem Oberlandesgericht in Hamburg wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen Terrorvereinigung und Verstößen gegen Waffengesetze verantworten. Den Ermittlern hatte er bereits vor der ersten Verhandlung seine Geschichte erzählt. Die Vernehmungen füllen 700 Ordnerseiten.

Drei Monate im IS-Trainingscamp

Harry S. wird zur Last gelegt, zur Bremer Salafistenszene zu gehören und im April vergangenen Jahres nach Syrien ausgereist zu sein. Dort soll er sich laut Bundesanwaltschaft der Terrormiliz angeschlossen haben und eine Kampfausbildung in einer IS-Spezialeinheit begonnen haben.

Der IS-Rückkehrer Harry S. in einem brutalen Propagandavideo (Foto: Internet)
Harry S. wirkte als Fahnenträger in einem IS-Propagandavideo mitBild: Internet

Im Internet kursiert ein Beweisvideo, das den 27-jährigen Angeklagten Harry S. bei dem IS in Syrien zeigt. Man sieht in dem deutschsprachigen Propagandavideo, wie Harry S. eine IS-Flagge schwenkt. Es ist ein brutaler Clip aus dem Juni 2015, mehrere Gefangene des IS werden darin ermordet. So brutal, dass Harry S. nach dem Dreh beschließt, nach drei Monaten Kampfausbildung in Syrien vor dem IS zu fliehen.

Über seine Erlebnisse in Syrien hat Harry S. bereits vor dem Prozess auch mit mehreren Medien gesprochen. "Die Leute haben aufgehört, menschlich zu sein", erzählte er etwa Reporterinnen des ZDF, die ihn in der Untersuchungshaft interviewt haben. Natürlich habe er gewusst, dass in Syrien Krieg herrscht, doch erst nach dem Videodreh habe er entschieden, dem IS den Rücken zu kehren: "Ich bin raus aus dieser Nummer, ich möchte nicht hier sterben mit Blut an meinen Händen."

Die Frage, die nun auch das Gericht beschäftigen wird, lautet: Wie konnte es überhaupt soweit kommen?

Vom sozialen Brennpunkt in den Dschihad

Ein Blick in die Biographie von Harry S.: Manches erscheint wie der typische Werdegang einer Radikalisierung. Der Deutsch-Ghanaer Harry S. wächst in London und in Bremen auf, in einem sozialen Brennpunktviertel. Einige seiner Freunde sind kriminell. Auch er muss wegen eines Raubüberfalls ins Gefängnis. Mit 20 konvertiert er zum Islam. In der Haft knüpft er erste Kontakte zur Bremer Islamisten-Szene. Er beginnt, sich zu radikalisieren.

Zurück in Freiheit besucht Harry S. regelmäßig eine Salafisten-Moschee des 2014 verbotenen "Kultur & Familien Vereins" (KuF). Dort wird er für den IS angeworben. Im April vergangenen Jahres reist er dann gemeinsam mit einem Bekannten über die Türkei in die syrische IS-Hochburg Rakka. "Ich bin vor meinen Problemen weggelaufen in eine Art Scheinillusion, dass da alles besser sein soll", erzählt der Ex-Dschihadist im ZDF-Interview.

IS-Rückkehrer Harry S. im Interview mit Radio Bremen (Foto: Radio Bremen)
Harry S. erzählt offen seine IS-Geschichte, wie hier im Interview mit Radio BremenBild: Radio Bremen

Es ist schwer zu verstehen, warum junge Menschen wie Harry S. das Leben anderer und ihr eigenes riskieren, warum sie freiwillig in Kampfgebiete ausreisen.

Realitätsschock Syrien

Der Berliner Pädagoge Thomas Mücke vom Violence Prevention Network arbeitet mit IS-Rückkehrern. Er sagt im DW-Interview, die soziale Herkunft sei nicht zwingend eine Ursache, weshalb Menschen in die Salafisten-Szene abdriften. Aber viele der jungen Dschihadisten hätten, ähnlich wie Harry S., das Gefühl gehabt, in der deutschen Gesellschaft nicht anerkannt zu sein.

"Die Salafisten verstehen es, emotionale Bedürfnisse von diesen Menschen zu bedienen - und benutzen sie dann für ihre Zwecke", so der Präventionsexperte. Auch Harry S. berichtet, ihn habe die "Sehnsucht nach einer Art seelischem Frieden" gelockt.

Einmal in Syrien beim IS angekommen, erleiden viele dann einen Realitätsschock. So war es wohl auch bei Harry S. "Sie merken, dass sie nur benutzt wurden und Syrien eine Sackgasse ist", sagt Mücke. Manche wären traumatisiert, die meisten desillusioniert.

Die IS-Ideologie wieder abstreifen - das sei allerdings nicht einfach so möglich. Ehemalige IS-Anhänger wie Harry S. sollten sich deshalb einige Fragen stellen: Welche Probleme haben sie in diese Szene hinein geführt? Welches Gedankengut haben sie dort aufgenommen? Wie soll ihr Leben hier in der Bundesrepublik Deutschland nach der Haft aussehen?

In den Fernsehinterviews gibt sich Harry S. ruhig und reflektiert. Es wirkt, als habe er Abstand zur Ideologie des IS gewonnen. "Diese Ideologie und dieser Traum vom Kalifat und vom perfekten Leben stimmt nicht, das ist einfach totaler Schwachsinn, totale Lüge", sagt Harry S. in einem Interview mit Radio Bremen.

Was weiß Harry S. über den IS?

Harry S. ist nicht der erste Syrien-Rückkehrer, der sich vor einem Gericht verantworten muss. Er ist auch nicht der erste, der offen über seine grausamen Erlebnisse spricht. Dennoch dürfte seine Geschichte für die Behörden interessant sein. Vor allem die Frage: Hat Harry S. auch an Kämpfen teilgenommen? Hat er Menschen getötet? Und: Was weiß er über mögliche Anschläge in Deutschland?

"Deutschland ist ganz klar im Visier", so sagte es Harry S. den Medien. Er selbst sei gefragt worden, ob er bereit sei, Anschläge in der Bundesrepublik zu verüben. Das habe er jedoch abgelehnt.

Für den Prozess sind zunächst neun weitere Verhandlungstage bis Ende Juli anberaumt. Das Interesse, möglichst viel über die Strukturen und das Gefahrenpotenzial des IS hier in Deutschland zu erfahren, dürfte groß sein. Immerhin haben sich nach Schätzungen der Sicherheitsbehörden inzwischen mehr als 800 kampfbereite Deutsche in die Kriegsgebiete nach Syrien und Irak aufgemacht. 260 von ihnen seien vermutlich wieder nach Deutschland zurückgekehrt, heißt es.