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"Der IS will Ankara schwächen"

Diana Hodali13. Januar 2016

Lange war die türkische Grenze für IS-Kämpfer aus und nach Syrien löchrig, seit Monaten aber bekämpft Ankara die Terrormiliz aktiv mit. Erdogan ist daher zum Feind Nummer 1 des IS geworden, sagt Experte Günter Meyer.

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Türkei Sicherheitskräfte am Anschlagsort in Istanbul (Foto: DPA)
Bild: picture-alliance/dpa/H. Pickett

Deutsche Welle: Trägt das Attentat von Istanbul die Handschrift der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS)?

Günter Meyer: Es deutet alles darauf hin. Wir haben bereits ein erstes Attentat im Juni 2015 in Suruç nahe der syrischen Grenze gehabt. Dann gab es im Oktober ebenfalls zwei Terroranschläge in Ankara mit etwa 100 Toten und mehr als 240 Verletzten. Dieser Anschlag reiht sich genau in diese Anschlagsserie ein - zumal sich in den vergangenen Monaten die Propaganda des "Islamischen Staates" im zunehmenden Maße auf Erdogan fixiert hat. In Propagandavideos rufen sie zum Kampf gegen Erdogan auf. In der letzten Ausgabe des Propagandamagazins "Dabiq" des "Islamischen Staates" werden Obama und Erdogan als ihre größten Gegner dargestellt. Vor diesem Hintergrund deutet alles darauf hin, dass der IS auch bei dem Anschlag in Istanbul die Verantwortung trägt.

Mittlerweile hat die türkische Polizei auch russische Staatsbürger mit angeblichen Verbindungen zur Terrormiliz festgenommen. Wie ist das zu bewerten?

Wenn hier von festgenommenen Russen die Rede ist, dann handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um Dschihadisten aus dem Kaukasus, insbesondere um Tschetschenen. Bereits seit Herbst 2014 ist die Zahl der aus dieser Region stammenden IS-Kämpfer auf mehr als 1500 angewachsen. Die Türkei hat den Transit dieser IS-Anhänger bisher ebenso geduldet wie die Einreise von mittlerweile mehr als 2000 Dschihadisten aus den muslimischen Republiken der ehemaligen UdSSR in Zentralasien, die sich dann dem IS in Syrien und dem Irak angeschlossen haben.

Der Türkei wird immer wieder vorgeworfen, sie verschließe die Augen vor dem IS im eigenen Land. Oft heißt es, sie dulden ihn sogar, weil ausländische Kämpfer ungehindert über die Türkei nach Syrien einreisen können. Warum bekämpft der IS dann ausgerechnet die Türkei?

Günter Meyer vom Zentrum für Arabische Studien in Mainz (Foto: Peter Pulkowski)
Günter Meyer vom Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt in MainzBild: Peter Pulkowski

In der Vergangenheit war es so, dass der IS aus türkischer Sicht die beiden wichtigsten Ziele, die Erdogan in Syrien erreichen will, unterstützt hat. Das ist zum einen der Sturz des Regimes von Baschar al-Assad in Damaskus, das durch ein sunnitisches pro-türkisches Regime ersetzt werden soll. Und zum anderen will Erdogan mit allen Mitteln verhindern, dass eine autonome kurdische Region oder gar ein kurdischer Staat auf syrischem Gebiet an der Südgrenze zur Türkei entsteht. Die früheren militärischen Erfolge des "Islamischen Staates" gegen die Kurden im Norden Syriens und auch die Eroberung von Kobane waren deshalb durchaus im Interesse der Türkei.

Was wir jetzt aber erleben, ist eine Wende, vor allem deshalb, weil die Türkei den USA erlaubt hat, den Luftwaffenstützpunkt in Incirlik zu nutzen, um von dort aus Luftangriffe gegen den IS zu fliegen. Auch deutsche Tornadoaufklärer starten von Incirlik. Das kann natürlich keineswegs im Interesse der Terrormiliz sein.

Damit ist die Türkei also Teil der Anti-IS-Koalition geworden. Und schwächt sie doch zugleich, indem sie gegen die Kurden kämpft. Wie passt das zusammen?

Die Türkei hat in der Vergangenheit nicht nur mit Waffenlieferungen und anderem logistischen Nachschub den IS unterstützt, sondern sie hat auch den freien Zugang von ausländischen IS Anhängern nach Syrien ermöglicht. Verwundete IS-Kämpfer wurden in türkischen Krankenhäusern versorgt. Auch die finanzielle Unterstützung von IS-Sympathisanten aus der gesamten islamischen Welt lief über die Türkei. Diese hat außerdem vom Kauf von syrischem Erdöl profitiert und damit zugleich eine der wichtigsten finanziellen Einnahmequellen des IS garantiert. Aber hier haben wir jetzt ganz klar eine Wende: Die Unterstützung des IS durch die Türkei wurde vor allem auf Druck der USA zurückgefahren.

Wer soll die von Ankara und Washington angestrebte Bekämpfung des IS in Syrien durchführen, wenn nicht die Kurden?

Die große Hoffnung aus US-amerikanischer Sicht, sind die "Demokratischen Kräfte Syriens", die sich am 10. Oktober 2015 zu einer militärischen Allianz zusammengeschlossen haben. Sie bestehen aus etwa 20.000 kurdischen Kämpfern der Volksverteidigungseinheiten (YPG) und 5000 sunnitischen Araber aus dem Norden Syriens, darunter auch eine Stammesmiliz der Schammar sowie eine Miliz von assyrisch-aramäischen Christen. Sie alle haben sich unter der Führung der USA zusammengefunden und werden von den USA militärisch versorgt. Diese Truppen haben erhebliche Geländegewinne gegen den IS erzielt, gerade vor zwei Wochen haben sie einen Staudamm am Euphrat erobert und damit eine wichtige Nachschublinie des "Islamischen Staates" zwischen Aleppo und Mossul durchtrennt. Sie sind jetzt inzwischen weiter in Richtung Aleppo vorgedrungen. Die syrische Stadt Manbidsch, eine der wichtigsten Zentren des IS, droht in nächster Zeit zu fallen. Von daher gesehen: Diese Allianz hat beachtliche Erfolge mit Unterstützung der USA erzielt.

Mit dem Verlust der syrischen Stadt Tel Abiad hatte der IS die wichtigste Verbindung in die Türkei verloren. Will der IS nach der empfindlichen Niederlage jedem zeigen, dass er noch da ist und zuschlagen kann?

Das kann durchaus eine Rolle spielen. Von der maximalen Ausdehnung des Islamischen Staates musste die Terrormiliz inzwischen etwa 30 Prozent einbüßen. Das heißt, diese Verluste, die der Islamische Staat erleidet, können durchaus als unmittelbarer Anlass gesehen werden, um genau jetzt gegen die Türkei vorzugehen und um weiter Druck auf die türkische Regierung auszuüben.

Wie stark ist der IS denn in der Türkei?

Der IS verfügt über zahlreiche Sympathisanten. Es gibt Schätzungen von mehr als 500, teilweise sogar bis zu 1500 türkische IS-Anhänger, von denen viele in der Zwischenzeit sich auch direkt dem Kampf im Irak beziehungsweise in Syrien angeschlossen haben.

Strand mit Sonnenliegen (Foto: picture-alliance/ZB/J. Kalaene)
Anschlag auf die Tourismusbranche?Bild: picture-alliance/ZB/J. Kalaene

Geht es bei dem Anschlag um die Schwächung des Tourismussektors oder will der IS vielleicht auch ein Machtvakuum in der Türkei schaffen?

Ein direkter Angriff auf die Türkei ist eher unwahrscheinlich, aber eine Destabilisierung der Türkei und zugleich eine damit verbundene Drohung sind wahrscheinlich: "Wenn ihr weiter gegen uns vorgeht, dann werden die Anschläge noch stärker zunehmen", so lautet die Botschaft. Gerade in wirtschaftlicher Hinsicht hat der IS in den vergangenen Monaten gezeigt, dass solche Anschläge durchaus wirksam sind. Die Anschläge in Tunesien haben dazu geführt, dass der Tourismus weitgehend zusammengebrochen ist. Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich zunehmend. Der Bombenanschlag auf das Flugzeug mit russischen Touristen über der Sinai-Halbinsel hat zu einem massiven Einbruch im ägyptischen Tourismus geführt. Der IS verfolgt klar das Ziel, die Türkei wirtschaftlich zu destabilisieren, um die Regierung in Ankara zu schwächen.

Professor Günter Meyer lehrt an der Universität in Mainz. Dort leitet er das Zentrum für Forschung zur Arabischen Welt.

Das Interview führte Diana Hodali.