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Nationalisierung light

Steffen Leidel26. November 2006

Der bolivianische Staat und die wichtigsten ausländischen Firmen des Erdgas- und Erdölsektors haben sich nach harten Verhandlungen auf neue Verträge geeinigt. Beide Seiten sehen sich als Gewinner. Zu Recht.

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Gasflaschen und ein Arbeiter
Bei dem Gasdeal ist es schwer, den Durchblick zu behaltenBild: AP

Gibt es im Drama um die Verteilung der reichen Erdgasvorkommen Boliviens doch noch ein Happy-End? Nichts schien darauf hinzudeuten. Am 1. Mai 2006 schickte Präsident Evo Morales Soldaten auf die Gasfelder und verfügte per Dekret die Nationalisierung des Erdgassektors. Die Bilder gingen um die Welt, verschreckten Investoren und Börsen. Morales stellte ein Ultimatum: In 180 Tagen mussten die Unternehmen neue Verträge mit der Regierung aushandeln. Andernfalls sollten sie ihre Koffer packen und gehen.

Tankstelle in La Paz
An dieser Tankstelle in La Paz freut man sich über die "Nationalisierung"Bild: DW/Steffen Leidel

Bis zur letzen Minute wurde um die Verträge gerungen. Doch dann verkündete Präsident Morales das überraschend harmonische Ergebnis. "Auftrag erfüllt". Morales sieht mit der "Verstaatlichung" des Energiesektors sein wichtigstes Wahlversprechen erfüllt. Die Frage über den Umgang mit den Ressourcen ist in Bolivien politischer Sprengstoff. Im ärmsten Land Südamerikas ist die Mehrheit der Menschen der Meinung, die ausländischen Firmen hätten die reichen Energieressourcen geplündert, und die Bevölkerung sei leer ausgegangen.

Auch Morales-Kritiker zufrieden

Verantwortlich machen sie dafür den neoliberalen Präsidenten Sánchez de Lozada, der wegen der Gasfrage 2003 nach schweren Unruhen aus dem Amt gedrängt worden war. Er hatte 1996 die Privatisierung des Sektors erlassen, genau in den Räumen, in denen Morales nun die Neuordnung des Energiesektors vorstellte.

Kein einziges der zwölf in Bolivien tätigen Unternehmen aus dem Energiesektor hat seine Drohung wahr gemacht und das Land verlassen. Im Gegenteil: Die Branche ruft sich wie die Regierung als Sieger aus. Die sonst Morales-kritische Branchenzeitung Energy-Press titelt "Gut gemacht" und setzt gleich zwei Ausrufezeichen hinter die Überschrift. Da muss doch etwas faul sein, mutmaßten einige politische Beobachter. Doch das scheint ein vorschneller Schluss.

Variable Abgaben

Nach den neuen Verträgen ist der bolivianische Staat über Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) der alleinige Eigentümer von Erdöl und Gas. YPFB erhält die volle Kontrolle über die Vermarktung, Förderung und Verarbeitung der Energieressourcen. Enteignungen gibt es nicht, die Unternehmen werden zu Dienstleistern des Staates.

Gasreservoir der staatlichen Gesellschaft YPFB in El Alto
Gasreservoir der staatlichen Gesellschaft YPFB in El AltoBild: AP

Für die Exploration der so genannten "Megacampos", der großen Erdgasfelder, erhält der Staat bis zu 82 Prozent Förderabgaben. Diese Felder werden von den drei wichtigsten Akteuren des Sektors Petrobras, Repsol YPF und Total betrieben. Bei den kleineren Gasfeldern werden weniger Abgaben fällig, aber immer mindestens 50 Prozent. Wie hoch die Abgaben im Einzelfall sind, wird durch eine komplizierte Formel festgelegt, die Variablen wie Höhe der Investitionen, Gaspreis oder Produktivität berücksichtigt.

Durch die Neuordnung des Sektors steigen nach Angaben der Regierung die Staatseinnahmen auf über eine Milliarde US-Dollar, das ist vier Mal so viel wie vor zwei Jahren. In vier Jahren könnte der Staat sogar mit vier Milliarden Dollar Einnahmen rechnen, sagte Morales.

Zukunftsmärkte Argentinien und Brasilien

Es gibt mehrere Faktoren, die den Abschluss der Verträge begünstigt haben. Der "wichtigste Katalysator" sei der jüngste Gasdeal zwischen Bolivien und Argentinien gewesen, schreibt Energy Press. Danach verpflichtet sich Bolivien, Argentinien in den kommenden 20 Jahren mit Erdgas für mindestens 17 Milliarden Dollar zu versorgen. Derzeit liefert Bolivien 7,7 Millionen Kubikmeter Erdgas pro Tag an das Nachbarland. Zwischen 2009 und 2010 soll die Menge auf 27,7 Millionen steigen.

Ein lukrativer Zukunftsmarkt, der jedoch nur bedient werden kann, wenn Bolivien seine Förderkapazitäten drastisch erhöht. Denn Bolivien muss gleichzeitig noch die Lieferverträge mit Brasilien einhalten, das rund die Hälfte seines Gasbedarfs aus Bolivien bezieht. Außerdem will die Morales-Regierung auch noch mehr Erdgas für den eigenen Markt bereitstellen. Dadurch werden Investitionen wieder attraktiv. Die Unternehmen in Bolivien haben zugesagt, insgesamt 3,5 Milliarden Dollar zwischen 2007 und 2010 zu investieren.

Verstaatlichung light

Wer mit Vertretern der Erdgasindustrie spricht, bekommt immer wieder zu hören, dass es eigentlich gar keine wirkliche Verstaatlichung gegeben habe. "Nationalisierung klingt spektakulär und dient dazu, politische Kampagnen zu rechtfertigen. In Bolivien hat der Staat noch nie seine natürlichen Ressourcen aus der Hand gegeben", sagt der Präsident des Energieunternehmes Canadian Energy, Enrique Coscio, der seit vielen Jahr im bolivianischen Erdgasgeschäft tätig ist.

Die Privatisierung von Sánchez de Lozada sei notwendig gewesen. Damals habe Bolivien in kürzester Zeit nachweisen müssen, dass es über genügende Reserven verfüge, um den mit Brasilien abgeschlossenen Gasvertrag einhalten zu können. Dafür waren riesige Investitionen notwendig. Deshalb schuf man für die ausländischen Unternehmen attraktive Bedingungen. Die Tatsache, dass Bolivien heute die zweitgrößten Erdgasreserven Lateinamerikas vorzuweisen hat, sei letztlich die Konsequenz der von Sánchez Lozada beschlossenen Senkung der Förderabgaben, schreibt der Energieexperte Jörg Husar von der Stiftung Wissenschaft und Politik in einem Fachartikel.

Die attraktiven Bedingungen führten laut Husar zu einer Versechsfachung der Investitionen im Erdgassektor. Zwischen 1996 und 2004 wurden 3,25 Milliarden US-Dollar in Exploration und Produktionsanlagen investiert. Die nachgewiesenen Reserven stiegen um ein siebenfaches auf 890 Milliarden Kubikmeter.

Hohe Öl- und Gaspreise begünstigen Gas-Deal

Auch die Situation auf dem internationalen Markt habe den Vertragsabschluss begünstigt. Der hohe Öl- und Gaspreis hat es den Unternehmen leicht gemacht, die Verträge zu akzeptieren. Auf dem Papier zahlten sie zwar mehr, doch unter dem Strich rechnet es sich nach wie vor. "Der schlagende Beweis dafür ist, alle sind geblieben", sagt Coscio. Der Gaspreis habe sich seit Mitte der 1990er Jahre vervielfacht.

Trotz der Euphorie bleiben mehrere Konflikte ungelöst, vor allem mit dem brasilianischen Energiekonzern Petrobras, der bislang etwa 46 Prozent der Reserven kontrollierte. Er soll YPFB die Mehrheitsbeteiligung an seinen beiden Raffinerien übertragen.

Außerdem muss das Vertragswerk noch vom Parlament gebilligt werden. Die Opposition hat bereits Nachbesserungen gefordert. Der Kampf um das bolivianische Gas geht weiter.