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Der Kanzler muss das Recht haben, das Parlament aufzulösen

Marc Young9. August 2005

Der Wahlkampf kommt in Schwung - Grund für eine Kolumne zu den aktuellen politische Ereignisse. Diese Woche beschäftigt sich der US-Amerikaner Marc Young mit der verfassungsrechtlichen Kontroverse rund um die Wahl.

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Vielleicht habe ich zu lang in Deutschland gelebt. Wie kann ich sonst erklären, dass ich kürzlich in meinem Urlaub auf Sardinien ins Internet gegangen bin, um mich über die neuesten politischen Ereignisse in Berlin zu informieren?

Ihre Meinung zählt!

Zugegebenermaßen habe ich nicht die ganze Zeit über die mögliche Verfassungswidrigkeit der vorgezogenen deutschen Neuwahlen gegrübelt, während ich im smaragdfarbenen Meer planschte oder an weißen Sandstränden schlummerte. Doch die Tatsache, dass ich mich über Gerhard Schröder und Angela Merkel informierte, nachdem ich einen köstlichen Cappuccino zu mir genommen hatte, outet mich als einen teutonischen Polit-Junky.

Glücklicherweise kommen mir solche Vorlieben in dieser neuen wöchentlichen Kolumne zu Gute. Aus der Perspektive eines informierten Außenstehenden werde ich versuchen, zu analysieren und zu hinterfragen, was der wichtigste deutsche Wahlkampf einer ganzen Generation werden könnte. Ich möchte die Leser ermutigen, den Feedback-Link am Ende eines jeden Kommentars zu nutzen. Teilen Sie mir Ihre Gedanken zu den Themen mit, mit denen ich mich befasse!

Es wird für niemanden eine Neuigkeit sein, dass Deutschland mitten in einer schweren wirtschaftlichen Krise steckt. Wer auch immer die Wahlen im Herbst gewinnt, wird mit dem deutschen Zwillingsleiden von hoher Arbeitslosigkeit und schleppendem Wachstum fertig werden müssen. Doch der nächste Kanzler wird auch die Vertrauenskrise, die Deutschlands kollektive Psyche befallen hat, angehen müssen. Das heißt, wenn es überhaupt eine Wahl gibt.

Bundesverfassungsgericht Schild Karlsruhe
Das Bundesverfassungsgericht muss noch entscheiden, ob es Neuwahlen geben wird.Bild: AP

Alle wichtigen politischen Parteien und die überragende Mehrheit der Öffentlichkeit unterstützen Schröders Entscheidung, die Bundestagswahlen um ein Jahr vorzuziehen, aber das deutsche Bundesverfassungsgericht könnte den Wahlkampf noch ausbremsen, der nun in vollem Gang ist.

Wird die Verfassung umgangen?

Schröder, der das Parlament nicht selbst auflösen kann, war dazu gezwungen, eine Vertrauensfrage zu fälschen, um vorgezogene Neuwahlen auszulösen. Und das ganze ein Jahr bevor seine zweite vierjährige Amtszeit geendet hätte. Das führte dazu, dass einige aufgebrachte Hinterbänkler aus Schröders eigener Mitte-Links-Koalition aus Sozialdemokraten und Grünen das Bundesverfassungsgericht anriefen. Mit der Begründung, der Kanzler habe die Verfassung umgangen, wollen sie die Wahlen stoppen.

Auch ich tendiere dazu, der Einschätzung zuzustimmen, dass die Vertrauensfrage weniger als koscher war. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Deutschland dringend aus seinem momentanen Selbstmitleid, der Reformangst und negativen Nabelschau aufgerüttelt werden muss. Und der beste Weg ist, in diesem Herbst zu den Wahlurnen zu gehen. Das Land kann es sich nicht leisten, noch ein Jahr zu warten. Berlin würde einen politischen Infarkt erleiden, da Schröders Agenda von der konservativen Opposition, die den Bundesrat kontrolliert, und dem rebellischen linken Flügel in seiner eigenen Partei verhindert würde.

Diese Einschätzung beseitigt aber noch lange nicht die Übelkeit, die ich angesichts dieses offensichtlich unredlichen Pfades zu vorgezogenen Neuwahlen empfinde. Die nächste Regierung wird eine Verfassungsänderung ins Auge fassen müssen, die es dem Kanzler erlaubt, das Parlament aufzulösen.

Stabile Demokratie

Bundestag
Der Bundestag in BerlinBild: AP

Ja, Deutschlands Nachkriegs-Gründungsväter hatten zahlreiche gute Gründe, die Auflösung des Bundestages zu einer schwierigen Angelegenheit zu machen. Deutschlands Grundgesetz wurde geschrieben, um die politische Instabilität der Weimarer Republik zu vermeiden. Diese hatte geholfen, 1933 Hitler an die Macht zu bringen. Aber wer kann heute ernsthaft argumentieren, dass das moderne Deutschland keine stabile und reife Demokratie ist?

Was die Repräsentation des Wählerwillens angeht, ist Deutschlands System der proportionellen Repräsentanz den absoluten Mehrheitssystemen in Großbritannien und vielen anderen Ländern weit überlegen. Aber es ist ein Anachronismus, dass der Kanzler nicht wie die Staatschefs anderer parlamentarischer Demokratien die Macht hat, das Parlament aufzulösen.

Die Zeit ist reif für einen Wandel. Die momentane düstere Lage, in der Deutschland sich befindet, bedeutet, dass Politiker und die Öffentlichkeit bereit sind, die offensichtlich gefälschte Vertrauensfrage im vergangenen Monat mit einem Kopfschütteln und einem Schulterzucken vorbeiziehen zu lassen. Aber solange das Grundgesetz nicht abgeändert wird, um solche Situationen in Zukunft zu vermeiden, werden die deutschen Politiker stillschweigend solch einen politischen Hokuspokus legitimieren.

Und das würde Deutschlands demokratische Institutionen weitaus mehr beschädigen, als wenn der Kanzler das Recht hätte, das Parlament aufzulösen.