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Der Kassandra-Effekt

Konstantin Klein12. Februar 2003

US-Bürger können nicht sagen, sie wären nicht gewarnt gewesen – für den Fall, es käme wieder einmal zu einem Terroranschlag. Zwei Männer haben das Warnen zum Beruf gemacht, berichtet DW-Korrespondent Konstantin Klein.

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Erfahrene Fernsehzuschauer in den USA wissen: Wenn dieses Duo auftritt, wird es freudlos. Zusammen sind John Ashcroft, Justizminister der USA, und Tom Ridge, Heimatschutzminister der gleichen USA, die fleischgewordene Garantie für düstere Aussichten – und das liegt nicht (nur) daran, dass beide die Kunst der öffentlichen Rede nicht erfunden haben.

Sie haben es aber auch nicht leicht, das Duo Ashcroft & Ridge. Wann immer sie zusammen zu sehen sind, wollen sie die Amerikaner warnen – vor bevorstehenden Anschlägen, geplant von islamistischen Terroristen. Das Problem dabei: Sie können oder wollen keine Einzelheiten nennen, verweisen regelmäßig auf sichere Erkenntnisse der zuständigen Behörden ... Und erwarten, dass ihre Landsleute die Warnungen ungeprüft glauben.

Das machen Ashcroft & Ridge jetzt seit mehr als einem Jahr so. Weil in dieser Zeit zum Glück kein Anschlag verübt wurde, nutzt sich selbst das ernsteste Ministergesicht irgendwann ab. Der Effekt: Die Minister geben eine Pressekonferenz, CNN & Co. übertragen live, und dann ist auch wieder gut: Die USA gehen zur Tagesordnung über.

Klassisch Gebildeten wird das bekannt vorkommen: Schon die trojanische Königstochter Kassandra hatte Probleme, ihre Landsleute vom Wahrheitsgehalt ihrer düsteren Zukunftsvorhersagen zu überzeugen.

Die Kassandren von Washington haben ihrer Vorgängerin jedoch einiges voraus: Zum einen haben sie die großen Nachrichtensender der USA auf ihrer Seite, die in Krisenzeiten das Geld verdienen müssen. Was ihnen in ereignisarmen Friedenszeiten verloren geht. Weshalb sie auf jede Äußerung aus Washington begeistert anspringen.

Und zum anderen haben sie ein geniales Mittel erfunden, die Terrorgefahr bildlich darzustellen: eine Farbskala, die von Grün bis Rot reicht. Weil keiner weiß, was der Unterschied zwischen Gelb und Orange im täglichen Leben eigentlich bedeutet, hatten sich Ashcroft & Ridge zunächst ätzenden Spott über ihre Farbenlehre gefallen lassen müssen.

Das ist inzwischen anders. Letzte Woche standen die beiden Minister wieder mit Leichenbittermienen vor der Kamera und schraubten den Terroralarm hoch auf Stufe Orange (die zweithöchste). Am nächsten Morgen brachte selbst die seriöse Washington Post Einkaufstipps für Überlebenspakete, und schon bildeten sich am Wochenende etwas längere Schlangen an den Supermarktkassen.

Eins haben meine Nachbarn aber noch nicht richtig verstanden: Im Krisenfall kann es passieren, dass die Stromversorgung für Tage wegbleibt. In derartigen Fällen helfen Tiefkühlpizza, Milch in Zweiliterkanistern und Joghurt palettenweise nur begrenzt über den Notstand.