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Praktizierter Klimaschutz

8. November 2016

In Marrakesch diskutieren die Staaten über Klimaschutz. In Deutschland setzen sich Kommunen längst mit den Folgen des Klimawandels auseinander. So wie Bocholt. Die Stadt am Niederrhein ist "Klimakommune der Zukunft".

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Stadt Bocholt Angela Theurich und Christoph Bruns
Bild: Bruno Wansing/Stadt Bocholt

"Mein Job ist sehr vielseitig, motivierend", lacht Angela Theurich (s. Titelbild). Und dann fügt die leitende Umweltreferentin hinzu: "Die Arbeit ist sinnhaft." Und auch verpflichtend. Denn seit Bocholt 2009 zurKlimakommune des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (NRW) gewählt wurde, gehört die Stadt zu den Vorreitern bei Klimaschutzmaßnahmen und Anpassungsstrategien an die Folgen des Klimawandels.

Theurich ist oft im Außeneinsatz: Sie berät Bürger im persönlichen Gespräch, bei Workshops, Exkursionen auf Baustellen. "Mehr Energieeffizienz, mehr klimafreundliche Mobilität und Sicherung des Lebenswertes in einem geschützten Stadt- und Landschaftsraum" - so lautete das Konzept, dass die Fachjury damals überzeugte.

Miniwindrad auf dem Geländer der Kläranlage der Stadt Bocholt
"Nur" zehn Meter hoch: Miniwindrad auf dem Gelände der städtischen Kläranlage in BocholtBild: Bruno Wansing/Stadt Bocholt

Bürgerberatung auf "offener Baustelle"

25 Klimaprojekte hatte die Stadtverwaltung benannt, die auf den Erhalt der Lebensqualität unter veränderten Bedingungen abzielen. Eines davon heißt "Altbau Optimal". Es richtet sich an Eigentümer, die motiviert werden sollen, den Heizenergieverbrauch ihrer Gebäude zu verringern. "Das ist ein wesentliches Instrument zum Erreichen der Klimaschutzziele und zur Minderung der CO2-Emissionen in Bocholt", begründet Theurich die Maßnahme. "Bei konsequenter Anwendung der Technik bei der Gebäudesanierung kann der Heizwärmebedarf von Altbauten um 60 bis 80 Prozent pro Jahr verringert werden." Energieeinsparung, Klimaschutz, Risikoverminderung von Feuchte und Schimmel, Verzicht auf Energieimporte und Arbeit für das Bocholter Baugewerbe seien Nebeneffekte. 

Eigentümer werden bei der Sanierung begleitet und finanziell unterstützt, so wie Familie Büning. Deren 60 Jahre altes Haus war energetisch nicht ausreichend gedämmt. Vier Monate brauchte es, um Dach, Fassade und die Kellerdecke zu dämmen, neue Fenster und eine Lüftungsanlage einzubauen. Interessierte Bürger konnten die "offene Baustelle" nach Absprache besichtigen. Dafür erhielten die Bauherren 40.000 Euro Prämie. Aber auch sonst hat sich die Maßnahme gelohnt: Tipps erhielten nicht nur die Besucher, sondern auch die Bewohner, erinnert sich Angela Theurich "Und wir hoffen auf viele Nachahmer." 

Mit Leckortung gegen Handwerkerpfusch

Haben die Baufirmen solide gearbeitet? Der Laie kann das kaum nachprüfen. Deshalb hat die Stadt Bocholt Bauherren einen Zuschuss zur Leckortung anboten. Mithilfe eines Gebläses außerhalb des Hauses und eines Luftstrommessgerätes wurden Lecks aufgespürt, bevor die Bewohner Unbehagen spüren. Das ernüchternde Ergebnis: 80 Prozent der Neubauten wiesen relevante Undichtigkeiten an Fenstern und Durchdringungen von Leitungen, Rohren und Kabeln auf.

Klimakiller enttarnt

"Klimaschleudern" wurden durch Thermalscanner aufgespürt. Eine Spezialfirma im Auftrag der Stadt erstellte bei einem Nachtflug Wärmebilder. Am 9.Februar 2011 war es soweit: Bei fünf Grad Celsius, wolkenfreiem Himmel und wenig Wind konnten die Flugkameras die Oberflächentemperatur der Gebäude scannen und Wärmeabstrahlungen farblich sichtbar machen. Ganze 700 Gebäude konnte die städtische Umweltabteilung so identifizieren. Deren Eigentümer wurden auf die Defizite aufmerksam gemacht, viele kurzfristig zur konkreten Sanierung motiviert.

Mit begrünten Dächern den Folgen des Klimawandels anpassen

Heftigere Regenfälle und eine Zunahme von Regenereignissen sind in Modellrechnungen für den Bocholter Raum für die Zukunft bereits vorhergesagt.

Gerade hat die Stadt mit finanzieller Unterstützung des Landes NRW ein neues Programm aufgelegt: Sie will, dass eine möglichst große Fläche der 1,6 Millionen Quadratmeter Flachdächer im Stadtgebiet begrünt werden. Niedrige Stauden und Ziergräser filtern Schadstoffe, befeuchten die Luft in heißen Sommern und speichern Regenwasser, wirken wärmeisolierend und schlucken den Schall. Die dafür verwendeten Pflanzen brauchen wenig Pflege und sind dekorativ. Hausbesitzer können dafür bis zu 3000 Euro Zuschuss erhalten.

Stadtbaurat Ulrich Paßlick und Bürgermeister Peter Nebelo
Stolz auf die Lastenfahrräder: Stadtbaurat Ulrich Paßlick und Bürgermeister Peter Nebelo Bild: Stadt Bocholt/Bruno Wansing

Als Fahrradstadt etabliert

Mehr als 39 Prozent der Bocholter fahren täglich Rad. Daher wurden Konzepte zu "Beschleunigung des Radverkehrs" erstellt: zieldirekte Verbindungen aus Wohngebieten zu Innenstadt, Schulen und Kindergärten, mit breiten Wegen und Vorfahrt für Zweiräder. Zuletzt hat die Stadt Lastenräder gefördert - mit und ohne Elektromotor (E-Bikes). Denn die sind hip und effektiv zugleich: Handwerker und Transportunternehmen nutzen die Räder mit einem Gewicht von bis zu 250 Kilogramm, um Post, Essen, Werkzeuge und Dachdeckermaterialien auszuliefern. Sie brauchen dadurch wenig Parkraum, sind günstig in der Anschaffung und im Unterhalt, produzieren weder Lärm noch klimaschädliches CO2 und fördern die Fitness der Mitarbeiter. Für den Gütertransport konnten Bocholter Betriebe E-Cargo-Bikes für bis zu vier Wochen kostenfrei testen. "Die Resonanz war super", resümiert Umweltreferentin Theurich.

Vereinen beim Sparen helfen

29 ortsansässigen Sportvereinen bekamen einen Energiecheck gesponsert. Die Effizienz von Heizungsanlagen, der Strom- und Wasserverbrauch wurden untersucht, kleinere Mängel sofort beseitigt. "Durch die Aktion konnten wir mehr Bewusstsein vermitteln für die Qualität des eigenen Vereinsheims und dessen Energieverlusten", so Angela Theurich.

Deutschland Bocholt Innenbereich Euregio-Gymnasium in Bocholt
Mehr Licht, weniger Kosten! Cornelius Janse, Lehrer am Euregio-Gymnasium, freut das Bild: Stadt Bocholt/ Bruno Wansing

Bessere Konzentration durch Tageslicht

In den Schulen wurden Leuchten mit hoch reflektierender Silber-Oberfläche eingebaut. Die strahlen nun tageslichtähnlich und sollen die Aufmerksamkeit von Schülern und Lehrern aktivieren. Ganz nebenbei wurden die Energiekosten um mehr als 50 Prozent reduziert. Pro Klassenraum werden so mehrere 100 Euro pro Jahr gespart. Bis 2020 will Bocholt den gesamten Strom städtischer Gebäude durch Erneuerbare produzieren. Hierfür werden Wind-, Solar- und kleinere Wasserkraftanlagen gebaut. 

Da Windenergie zwar populär ist, aber viele Bürger den Lärm, der beim Drehen der Rotoren produziert wird - und die Größe der Windräder - als störend empfinden, werden Kleinwindanlagen im Industriegebiet erstellt. Sie sind bis zu zehn Meter hoch. Der erzeugte Strom soll vor Ort genutzt werden.

Für die Zukunft planen

"Was wäre, wenn häufiger extreme Starkregenfälle die Stadt überfluten würde?" Für dieses realistische Zukunftsszenario hat die Stadtverwaltung modellhaft die hydrologischen Auswirkungen berechnen lassen. Darin enthalten sind eine Gefährdungs- und Fließweganalyse für einzelne Stadtbereiche, ein Maßnahmenkatalog mit Notfallplänen, Kommunikationsabläufen und der Anlage eines Wasserplatzes, auf dem sich große Mengen Regenwasser sammeln können. "So kann sich die Stadt zukünftig, angepasst an mögliche Auswirkungen des Klimawandels, weiter entwickeln", erklärt Angela Theurich.

Deutschland Bocholt - Rathausplatz mit Markt
Gerüstet, wenn Hochwasser den Marktplatz vor dem historischen Rathaus überfluten könnte Bild: Imago/R. Lueger

Per Evaluation werden die umgesetzten Maßnahmen auf ihre tatsächliche Wirkung hin untersucht, um bei Bedarf strategisch nachsteuern zu können. "Die vielen Projekte haben deutlich gemacht, dass sich Klimaschutz und Klimafolgenanpassung in alle Bereich einer Verwaltung und Stadtgesellschaft hineinziehen", bilanziert die Biologin Theurich ihre Arbeit. "Wir konnten darüber hinaus zeigen, dass Ökologie und Ökonomie in Bocholt kein Widerspruch sind, sondern sich gegenseitig befruchten können." Der Einsatz für den Klimaschutz schafft Arbeitsplätze.

Im Nachhinein hätte sie sich einen Marketingspezialisten an ihrer Seite gewünscht, "der dem weit verbreiteten Vorurteil 'das rechnet sich nicht' etwas entgegensetzen würde und in origineller Form die Umweltschutzprojekte bewerben würde."