1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Interview

28. Dezember 2009

Er formuliert immer prägnant und provokant. Er ist Deutschlands bekanntester Volkswirt. Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Jetzt geht er in den Ruhestand. DW-WORLD.DE hat mit ihm gesprochen.

https://p.dw.com/p/LCF4
Norbert Walter (Foto: dpa)
Norbert WalterBild: DPA

DW-WORLD.DE: Professor Walter, Sie gelten als passionierter Langläufer, sie gelten als Freund der Berge. Haben Sie ab jetzt mehr Zeit für Ihre Hobbys?

NORBERT WALTER: Ich behaupte ja. Diejenigen, die mich beobachten, melden allerdings Widerspruch an. Die Wahrheit wird in der Mitte liegen. Ich werde die Tage nicht mehr damit beginnen, dass ich in die Frankfurter Börse renne und dort Interviews gebe. Ich werde die Tage damit beginnen, dass ich in den nahe gelegenen Eichwald im Taunus laufe und mich vor dem Frühstück sportlich ertüchtige. Denn ich bin zu rund geworden in der Schlussphase meiner 80-Stunden-Tätigkeit.

80 Stunden pro Woche klingt anstrengend. Aber wenn man so präsent ist wie Sie, dann ist das wahrscheinlich der Preis dafür.

Ja, aber es ist ein Preis, der einem weh tut. Man merkt dann ganz genau: Irgendwann sind die Umkipppunkte da. Wenn man anfängt, unruhig zu schlafen, wenn man sagt, der Knopf drückt, die Krawatte muss ich lockern, das ist nicht schön, vor allem für jemanden, der ein Bewegungstyp ist. Ich bin ein Bewegungstyp, ich merke ja, dass ich richtig glücklich bin, wenn ich einen Berg geschafft habe, wenn ich von oben 'runter schauen kann, und wenn ich eine Treppe ohne Atemnot mit zwei Stufen gehen kann. Auch als 65-Jähriger fände ich es unerträglich, darauf nicht zu achten.

Sie sind sozusagen Deutschlands bekanntestes Wirtschaftsgesicht. Die fünf Wirtschaftsweisen würde auf der Straße niemand ansprechen, weil sie niemand erkennen würde. Ein Norbert Walter, könnte ich mir vorstellen, wird im Supermarkt schon mal angesprochen und nach dem Motto: Wie geht's weiter mit der Wirtschaft? Wird Ihnen so etwas fehlen?

Ich weiß ja gar nicht, ob es nicht weiter so ist. Ich habe gelernt, dass das Gedächtnis von Menschen wahnsinnig zäh ist. Ich hatte mal eine Kolumne geschrieben in einer deutschen Sonntagszeitung vor über mehr als einem Jahrzehnt. Fünf Jahre, nachdem ich das aufgegeben hatte, wurde ich immer noch angesprochen darauf, dass ich doch in dieser Sonntagszeitung eine Kolumne hätte. Ich hatte nie eine sonntägliche, es war nie wöchentlich, es war immer nur alle 14 Tage und trotzdem, sieben Jahre später haben Leute immer noch geglaubt, ich schriebe jeden Sonntag. Also das Gedächtnis ist sehr zäh, es retardiert, ich vermute, dass man mich noch eine Weile erkennt.

Aber trotzdem ist es ja ein Loslassen nach so viel Präsenz. "Medien-Volkswirt" hat man Sie einmal getauft. Nach so viel Beschäftigung mit den Umständen, wie unsere Wirtschaft funktioniert, mit Prognosen, mit Einschätzungen, vielleicht auch falschen Einschätzungen. Sie haben sich viel anhören müssen, kein Wunder, Sie haben auch viel provoziert. Sie waren der Erste, der sich mit einer düsteren Prognose vorwagte, als es darum ging, die Folgen der Finanzkrise für die deutsche Wirtschaft vorherzusagen. Das hat Ihnen eine Menge Prügel eingebracht. Panikmache hat man Ihnen vorgeworfen. Wenn Sie jetzt zurückblicken: Hat das wehgetan oder haben Sie sich bestätigt gefühlt?

Also ich liebe mein Land zu sehr, als dass ich mit dem Eintreten einer schlechten Prognose glücklich wäre. Es wäre mir schon sehr viel sympathischer, es wären weniger arbeitslos und die Leute hätten Einkommenssteigerung. Aber natürlich ist es so, ich bin professioneller Prognostiker und da möchte man natürlich mit den Überlegungen, den Argumenten, die man vortrug, dann auch Recht haben, das ist natürlich.

Sie sind seit 1990 Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Haben Sie auch mal so richtig daneben gelegen, worüber Sie sich heute noch so richtig ärgern? Beispielsweise haben Sie ja, als die Krise ausbrach, gesagt: So schlimm wird es nicht kommen. Es ist dann aber doch ziemlich schlimm gekommen. Worauf Sie sich dann ja wieder an die Spitze der Bewegung gesetzt. Gehört das zum Leidwesen eines Prognostikers?

Es gibt Sachen, bei denen ich hinterher mit mir ungnädig bin. Ich kann Fehler, die vermeidbar gewesen wären, nicht ertragen. Und wenn ich unsorgfältig war, wenn ich vorhandene Informationen nicht wahrgenommen und aufgenommen habe, dann bin ich mit mir ungnädig. Solche Fälle gab es. Ich habe beispielsweise zu meinem Leidwesen den ifo-Geschäftsklimaindex ignoriert, ich habe ihn nicht ernst genommen. Das hätte ich nicht tun sollen. Das war eine Prognose in den 70er Jahren. Da habe ich eine Zwischenphase einfach verschlafen. Und das tut weh. Weil ich einen vermeidbaren Fehler gemacht habe. Aber es gibt andere Situationen, wo etwas ganz Neues kommt, wo es durch institutionelle Regelungen oder durch technologische Prozesse zu völlig anderen Prozessen kommt. Und da darf ich auch vom Rathaus kommen und klüger sein. Und ich hoffe, dass ich dann immer ganz schnell klüger werde. Aber dort bin ich mir nicht böse. Und solche Fälle gab es auch. Also, beide Situationen sind ja vorhanden.

Klingt aber trotzdem so, als wären Sie mit sich im Reinen am Ende dieses Abschnitts Ihres Lebens. Jetzt ist dieser Schnitt gemacht, jetzt kommt ein neues Stück eines neuen Weges. Ich könnte mir nicht vorstellen, Sie demnächst gar nicht mehr zu sehen oder zu hören oder zu lesen. Wenn Sie ins neue Jahr reinschauen, wie geht es weiter für Sie?

Das erste, was ich im Verlauf der letzten 20 Jahre entbehrt habe, war, dass ich öfter einmal etwas Grundsätzliches und Wichtiges auch in einer ordentlich strukturierten Form aufgeschrieben habe. Und für mich ist diese ordentliche Form ein Buch. Ich glaube, dass man seine Gedanken strukturiert eigentlich nur in einem Buch verfassen kann. Es braucht eine bestimmte Länge, es braucht eine bestimmte Ruhe, es braucht eine bestimmt Gründlichkeit, die in Aufsätzen, Artikeln und kurzen Interviews einfach nicht geleistet werden können. Ich habe nur ein einziges wichtiges Buch in dieser Periode gemacht und das war das Buch zum Euro.

Was Ihnen ja auch viele vorgeworfen haben, dass er sich immer nur über Interviews artikuliert und Gastbeiträge...

Ich empfinde das gleiche Defizit, ich ziehe mir diesen Schuh an. Aber ich habe mich in dieser Zeit mit einer Mannschaft von 80 Leuten, mit meiner Medienpräsenz, mit Nachfrage von Kunden um den Globus herum nicht im Stande gesehen, mich genügend Stunden hinzusetzen, um die gründliche Arbeit zu machen. Das erste Büchlein ist schon da zu Marktwirtschaft, Ethik und Moral. Das zweite Büchlein zur Finanzkrise ist fast fertig. Das wird sicherlich bis Ostern auf dem Markt sein. Und ich hoffe zur Buchmesse 2010 auf etwas, das mir sehr am Herzen liegt: Ein Buch nämlich über den Beitrag, den Europa für eine vernünftige Weltordnung leisten kann. Wir sollten der Welt vermitteln, dass Nationalstaaten, die sich Jahrhunderte lang an der Gurgel waren, eine Europäische Union formieren können und damit Wohlstand und Freundschaft in einem großen Raum wie Europa sichern können. Das würde ich gerne vermitteln. Ich schreibe damit ein Buch für die anderen, das heißt, die Übersetzungen ins Chinesische und ins Englische sind wichtiger als die deutsche Version.

Das Interview führte Henrik Böhme

Norbert Walter (65) ist Chefvolkswirt der Deutsche Bank. Zum Jahreswechsel 2009/2010 geht er in Pension.