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Reporter in Caracas

Steffen Leidel 2. Dezember 2006

Eligio Rojas ist Polizeireporter in Caracas, einer der gefährlichsten Städte Lateinamerikas. Mord, Bandenkriege, Raub, Korruption sind einige seiner Themen. DW-WORLD.DE hat ihn bei seiner Arbeit begleitet.

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Eligio Rojas und ein Polizist
Eligio Rojas im RecherchegesprächBild: DW/Steffen Leidel

Im Job von Eligio Rojas ist eines so sicher wie das Amen in der Kirche. Am Ende des Tages wird er seine Story haben. Caracas lässt einen Straßenreporter nie im Stich. Jeden Tag gibt es Morde, Schießereien, Bandenkriege, Raubüberfälle, Unfälle. Die vier-Millionen Stadt ernährt ungezählte Straßenreporter, alle Zeitungen haben Seiten, die sie mit "Blutnachrichten", wie Eligio sie nennt, füllen.

Eligio durchsucht Zeitungen
Früh werden erst einmal die anderen Zeitungen nach Themen durchsuchtBild: DW/Steffen Leidel

Eligio arbeitet für die meist verkaufte Tageszeitung in Venezuela "Ultimas Noticias". Er ist auf Gerichtsthemen spezialisiert, doch hin und wieder muss er raus in die Viertel, dort wo die Toten liegen, mit ihren zerfetzten Schädeln in grotesken Körperhaltungen in Pfützen aus Blut und Abwasser. "Das sind pathetische Bilder manchmal", sagt Eligio. Nach Angaben des Bürgermeisters vom Chacao-Stadtviertel in Caracas hat es in der Stadt zwischen 1998 und 2004 insgesamt 90.027 Morde gegeben, fast drei Mal so viel wie im Afghanistan-Konflikt zwischen 2001 und 2006. Auf 100.000 Einwohner kommen 40 Morde. In Venezuela gibt es nach Schätzungen mehr als sieben Millionen Schusswaffen, nur 50.000 davon sind registriert.

Gerichtsmedizin wichtigste Anlaufstelle

Eligio ist wohl genau das, was man sich nicht unter einem Straßenreporter vorstellt. Keine Zigaretten, kein hektisches Herumtelefonieren, keine Augenringe, kein Fast-Food. Der hochgewachsene Eligio spricht leise, verströmt Gelassenheit und bringt sich einen rotglänzenden Apfel mit zur Arbeit.

Warten auf die Angehörigen der Opfer vor der Gerichtsmedizin in Bello Monte
Warten auf die Angehörigen der Opfer vor der Gerichtsmedizin in Bello MonteBild: DW/Steffen Leidel

Im Job von Eligio gibt es mehr Routine als man denkt. "Du musst dahin, wo die Geschichten sind", sagt er. Deshalb bringt Fahrer John ihn und einen Fotografen immer zuerst zur Gerichtsmedizin in Bello Monte. Hierhin werden die hingebracht, die im Stadtgebiet von Caracas eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Eligio trifft dort die Kollegen der anderen Medien. Die Reporter warten auf die Angehörigen der Toten, belagern sie aber nicht. "Manchmal gehen nur zwei hin, um zu fragen, was genau passiert", sagt Eligios Kollegin Sabrina von der Zeitung Panorama.

Danach tauschen die Journalisten die Infos aus. Von der Polizei erfahren sie offiziell nichts mehr, das Pressebüro wurde zugemauert. Die Polizei ist zudem Teil des Problems. Die Beamten sind unterbezahlt, es blüht die Korruption. In der Regel ist es die Polizei selbst, die Waffen in die Viertel liefert.

Gewalt ist Wahlkampfthema

Heute ist die Ausbeute vor der Gerichtsmedizin mau. "Wir sind praktisch ohne News", stöhnt Eligio. Ein Student hat sich beim Herumspielen mit einer Pistole selbst ins linke Auge geschossen, er ist tot. Das reicht nur für paar Zeilen, mehr nicht. Außerdem gibt es Gerüchte über mehrere tödliche Autounfälle.

Im Stadtviertel Petare herrschen vielerorts Jugendgangs
In Petare herrschen vielerorts JugendgangsBild: DW/Steffen Leidel

Solche Tage sind die Ausnahme. Am Wochenende werden in Bello Monte oft mehr als 20 Tote eingeliert. "Petare ist zurzeit das Viertel, das in 'Mode' ist", sagt Eligio. 32 Gangs aus Jugendlichen soll es dort geben, sie bekriegen sich gegenseitig. Die Gewalt auf den Straßen ist eines der Hauptthemen im Wahlkampf. Die Opposition behauptet mehr als 60 Prozent der Menschen fühlen sich unsicher, der Innenminister spricht von 35 Prozent. "Meine Zeitung hat eine Umfrage gemacht. Demnach haben 90 Prozent der Venezolaner jemanden in ihrer Bekanntschaft, der schon mal Opfer eines Raubes oder ähnliches war", sagt Eligio.

Die Opposition wirft der Chávez-Regierung vor, bei der Verbrechensbekämpfung versagt zu haben. "Ich weiß nicht, ob die Gewalt im Vergleich zu den Vorjahren zugenommen hat. Sie hat es immer gegeben. Es gibt immer wieder einmal Spitzenzeiten", so Eligio.

Kaffee und extraoffizielle Information vom Comisario

Derzeit blühe eben die Gewalt im Petare-Viertel. Eligio und Sabrina beschließen zur dortigen Polizeistation zu fahren, um extraoffizielle Informationen zu bekommen. Petare ist immer für eine Story gut, weiß Eligio und er wird Recht behalten.

Die Polizei sitzt in einem finsteren Betonbunker, der Comisario reicht den Reportern bittersüßen Cafe in Plastikbechern. Er geht die Einsatzliste der Nachtschicht durch. "Morgen feiern wir unser 50-Jähriges Bestehen", murmelt er. Ein paar Schießereien habe es gegeben, einen Toten. "Ein 14-jähriger ist in die Schusslinie gekommen und gestorben", sagt der Comisario. Ein tragischer Fall, doch wieder kein Aufmacherthema.

Eligio hakt nach: "Ist denn gerade eine aktuelle Aktion am Laufen." Der Fuhrpark der Polizei ist so gut wie leer, nur zwei Motorräder stehen noch da. Der Comisario legt den Kopf schief. Einsatzkräfte und operative Einheiten seien wegen der "Invasion" eines brachliegenden Grundstücks im Einsatz. Etwa 120 Familien hätten im Morgengrauen das Gelände "eingenommen" und würden jetzt Hütten darauf bauen. Eligio verliert keine Zeit.

Der Aufmacher steht

Gewalt Okupas
Bild: DW/Steffen Leidel

Vor Ort ist klar, das ist die Story des Tages. Über das Grundstück gab es eine große Polemik in der Stadt. Hier sollten Gerichtsgebäude entstehen, doch das Projekt wurde auf Eis gelegt. Die Polizei hat das Gelände abgesperrt, darauf zimmern sich die "Invasoren" kärgliche Hütten zusammen. Zu den Reportern sind sie freundlich. "Wir sind hierher gekommen, damit uns Präsident Chávez Wohnungen besorgt", sagt einer. "Wir haben ein Recht darauf. So steht es in der Verfassung", sagt ein anderer. Die Leute stammen aus verschiedenen Teilen des Petare-Viertels. Solche Aktionen sind nicht selten. Wohnraum fehlt überall. Für Eligio ist jetzt alles nur noch Routine: Interviews mit den Besetzern, der Polizei, der Fotograph macht Fotos.

Der Aufmacher für den nächsten Tag steht. Diesmal eine Geschichte ganz ohne Blut. Eligio ißt seinen Apfel. Es schien ein mauer Tag zu werden. Doch Eligio wusste die ganze Zeit: Am Ende des Tages wird er seine Story haben.