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Der sanfte Rebell

11. Januar 2010

Er schrieb den Soundtrack für eine ganze Generation von Hausbesetzern und linken Aktivisten: Rio Reiser. Der Protestproet wäre inzwischen 60 Jahre alt geworden. Ein Porträt.

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Rio Reiser (Foto: Schwules Museum)
Keine Macht für niemand: Er dichtete die Parolen für die Transparente linker AktivistenBild: SchwulesMuseum

"Keine Macht für niemand" – ausgerechnet Rio Reisers wohl berühmtesten Song wollten die Auftraggeber nicht haben. Vielleicht passte die antiautoritäre Parole einfach nicht ins Konzept der RAF, die Rio Reiser für einen Image-Song anheuerte. Schließlich führte Andreas Baader die Terror-Gruppe Anfang der 70er durchaus machtbewusst, man könnte auch sagen autoritär.

Geschadet hat die Ablehnung Rio Reiser und seiner legendären Band Ton Steine Scherben nicht, im Gegenteil. "Keine Macht für niemand" wurde zum Credo einer ganzen Generation junger Leute, die anders sein wollten als ihre Eltern, die Häuser besetzten, gegen Aufrüstung protestierten, gegen Atomkraft kämpften. Und der sensible, zurückhaltende junge Mann Rio Reiser wurde ihr Dichter, schrieb die Parolen für ihre Transparente: "Macht kaputt, was euch kaputt macht", "Ich will nicht werden wie mein Alter ist", "Der Traum ist aus".

Ton Steine Scherben live 80er Jahre (Foto: Jazzarchiv)
Die Bald ist schnell genervt, als Propagandamaschine missbraucht zu werdenBild: picture-alliance / jazzarchiv

Rebellisch, anarchisch, hemmungslos

Rio Reiser, der eigentlich Ralf Möbius heißt, fängt früh an mit der Musik. 1966, mit 16, gründet er seine erste Band, spielt Beatles- und Rolling-Stones-Hits nach. Doch das reicht den Jungs nicht, sie fragen sich, ob es nicht möglich ist, Rockmusik mit deutschen Texten zu machen. Reiser experimentiert herum, komponiert Stücke für ein Jugendtheater, 1970 nimmt er dann mit ein paar Freunden die Single "Macht kaputt was euch kaputt macht" auf. Ein paar Monate später der erste Auftritt von "Ton, Steine, Scherben", die erste LP.

Der Scherben-Sound ist geboren: Rebellisch, anarchisch, unberechenbar – nie zuvor gab es in Deutschland eine solche Musik, und vor allem Texte, die hemmungslos alles wegfegen, was auch nur den Anschein von Spießigkeit und Establishment hat.

Bitte keine Propaganda

Doch die Scherben sind bald genervt, von links fast ausschließlich als Propagandamaschine missbraucht zu werden. Sie ziehen sich auf einen Hof im nordfriesischen Fresenhagen zurück. Immer mit dabei: ihre Managerin Claudia Roth, später Bundesvorsitzende der Grünen. In der norddeutschen Provinz produzieren sie Kinderplatten und Theatermusik.

Rio Reiser (Foto: Schwules Museum)
König von Deutschland: In seiner Solo-Karriere scheute er Anleihen beim Schlager nichtBild: SchwulesMuseum

Das ist das zweite Talent Rio Reisers: Das Theater und der Film. Gemeinsam mit seinen beiden älteren Brüdern komponiert er schon 1967 eine "Beat-Oper" und bringt sie auf die Bühne. Und auch als Schauspieler macht er sich einen Namen. 1977 spielt Reiser die Hauptrolle im Film "Jonny West" und bekommt dafür den Bundesfilmpreis. Zweimal spielt er auch in Tatort-Folgen mit, steuert beide Male den Titelsong bei.

Schlager-König von Deutschland

1985 ist Schluss mit Ton Steine Scherben, die Band ist finanziell am Ende. Reiser startet seine Solo-Karriere. Auf seinem ersten Soloalbum "Rio I" das Lied, das ihn auch außerhalb der linken Szene bekannt macht: "König von Deutschland". Die handfesten Parolen sind feinsinnigeren, manchmal ironischen Texten gewichen, die Musik ist jetzt manchmal mehr Schlager als Rebellen-Rock. Viele Kritiker feiern Reiser nun als wahren "Volkssänger". Und in der Tat: Reiser schreibt sowohl Kinder-, Weihnachts- als auch Seemannslieder ("Übers Meer"). Vor allem aber: Liebeslieder. "Junimond", "Halt dich an deiner Liebe fest" werden noch Jahre nach seinem Tod immer wieder gecovered. Geschrieben hat er sie wahrscheinlich für Männer. 1970 outet er sich, macht auch in Interviews aus seiner Homosexualität kein Geheimnis.

Rio Reiser - Ende der 80er Jahre (Foto: Jazzarchiv)
Viele seiner alten Fans irritierte sein Solo-StilBild: picture-alliance / Jazz Archiv Hamburg

Viele seiner alten Fans sind irritiert vom kommerziellen Erfolg seiner neuen Stücke. Ist ihr antibürgerlicher Prophet zum Kommerz-Musiker geworden? Doch ein neues Publikum wiegt sein altes auf: Die Frauenzeitschrift Emma kürt zwei Songs seines Soloalbums zum schönsten Liebeslied des Jahres ("Für immer und dich") und zur "schönsten Aufforderung zu strafbaren Handlungen" ("Lass uns das Ding drehen"). Der kommerzielle Erfolg ändert nichts an seiner Haltung. Rio Reiser ist nach wie vor ein politischer Musiker, er nutzt seine Bekanntheit, um sich einzumischen: Sein Lied "Alles Lüge" wird Wahlkampfsong der Grünen, immer wieder spielt er auf Anti-Atomkraft-Demonstrationen.

Von den Grünen zur PDS

Nach der Wende tritt Reiser in die PDS ein. Ein Schritt, den viele Weggefährten nicht nachvollziehen können. Der Mann, der keine Macht für Niemand gesungen hat, engagiert sich nun für eine Partei, die noch ganz in der Tradition der SED steht – völlig bürokratisiert, autoritär, hierarchisch. Der Eintritt hat Konsequenzen: Seine Lieder verschwinden aus den Radioprogrammen, Fernsehauftritte werden seltener.

Rio Reiser (Foto: Schwules Museum)
Rio Reiser macht aus seiner Homosexualität kein GeheimnisBild: SchwulesMuseum

Von 1990 an geht es mit Rio Reiser gesundheitlich bergab. Man spricht von Alkohol- und Drogensucht. Vor allem die Leber macht ihm Probleme. Reiser geht immer seltener auf Tour, doch seine Musik wird von Album zu Album besser, schreiben die Kritiker. 1995 kommt "Himmel und Hölle" heraus – es wird sein letztes Album sein. In den Texten tauchen immer wieder die Worte Hoffnung und Sehnsucht auf. Bei dem Lied "Gefahr" liebäugelt der Sänger, wie schon 25 Jahre vorher auf der ersten Scherben-LP, mit dem Tod.

"Nehmt mir die Krone weg!"

"Wirklich keine lustige CD", gibt Reiser damals in einem Interview selbst zu. "Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Depressionen hätte." In dem Stück "Hoffnung" singt der "König von Deutschland": "Nehmt mir die Krone weg – nehmt sie zurück – ich kann euch nicht führen – denn ich weiß den Weg nicht." Alles gar nicht so schlimm, sagt Reiser in dem Interview. "Ich singe die düsteren Inhalte mit einem Lächeln. Es gibt ja – wenn auch nur in geringem Maße – den Ausblick auf ein Happy End." Rio Reiser starb am 20. August 1996 in Fresenhagen. An diesem Samstag wäre er 60 Jahre alt geworden.

Zwei Ausstellungen erinnern zum 60.Geburtstag an Rio Reiser:

Im brandenburgischen Dorf Alt Tucheband, der Heimat seiner Familie, widmet sich seit Anfang Januar ein kleines Museum Leben und Musik von Rio Reiser.

"Allein unter Heteros": Das Schwule Museum in Berlin zeigt bis zum 1. März in einer Kabinettausstellung Privates von Rio Reiser: Tagebuchaufzeichnungen und Porlaroidfotos, von ihm selbst aufgenommen.

Autor: Manfred Götzke
Redaktion: Sabine Oelze