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Der Schreck ist weg

1. Dezember 2009

HIV lässt sich behandeln. Aber vermitteln die Medikamente nicht ein falsches Gefühl von Sicherheit? Ein Gespräch mit Jürgen Rockstroh von der Deutschen AIDS-Gesellschaft über Pflichttests, Aufklärung und Müdigkeit.

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Eine Frau hält eine AIDS-Schleife in den Händen (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

dw-world.de: AIDS-Medikamente verlängern Leben, aber denken viele deshalb nicht auch, eine HIV-Infektion sei nicht weiter schlimm, weil man sie inzwischen behandeln kann?

Porträt Jürgen Rockstroh (Foto: DAIG)
Bild: DAIG

Prof. Jürgen Rockstroh: Heilen können wir AIDS immer noch nicht, wir können nur die Vermehrung von HI-Viren unterdrücken, das ist eine lebenslange Behandlung. Trotzdem verliert die Krankheit durch die Behandlungsmöglichkeiten natürlich ihren Schrecken. Eine Krankheit, die unmittelbar zum Tode führt, prägt sich ein. Wenn man jetzt aber hört, ach, mit den Medikamenten könnte ich aber noch 30 bis 40 Jahre leben – das beeinflusst sicher auch das Verhalten. Umfragen in den USA zeigen, dass ein Drittel der Männer, die Sex mit Männern haben, das Kondom weglassen mit dem Gefühl, dass wenn es soweit kommen sollte, dass dann ja auch die Infektion behandelbar ist.

Aber das ist doch ein erschreckender Effekt der eigentlich tollen Medikamente!

Ich finde es auch erschreckend, vor allem, wenn ich jeden Tag mit Patienten spreche, die mit AIDS-Medikamenten behandelt werden und die sagen, das vertrage ich nicht, ich habe so schlechte Träume, ich kann mich nicht konzentrieren, bin so müde, habe Osteoporose und so weiter. Eine jahrelange HIV-Therapie ist etwas, das sehr viele Nebenwirkungen hat. HIV ist behandelbar – aber zu einem gewissen Preis.

Um die Medikamente kommt man ja ganz einfach herum, indem man sich beim Sex schützt. Das wissen viele – trotzdem gibt es seit Jahren in Deutschland immer wieder etwa 3000 HIV-Neuinfektionen. Hätten Sie eine gute Idee, wie man diese Neuinfektionen reduzieren könnte?

Es gibt diese Initiative „HIV Europa“ und deren Bemühen ist es zur Zeit den Teil der Menschen, die ihre Diagnose nicht kennen, zu verringern. 50 Prozent der infizierten Menschen in Europa kennen ihre HIV-Diagnose nicht. Und wer seine Diagnose nicht kennt und kein Safer Sex macht, kann natürlich auch weiter andere Menschen anstecken.

Ein HIV-Test wird ja nicht einfach mal eben mitgemacht, wenn der Hausarzt bei der Vorsorgeuntersuchung das Blut untersucht. Könnte man den Test nicht praktischerweise zu einer Art Pflichttest machen? So einmal im Jahr?

Wir glauben, dass die Fälle von HIV-Infektionen in Deutschland zu gering sind um das als sinnvoll erscheinen zu lassen. Und man darf natürlich nicht vergessen, dass mit dieser Diagnose immer viele Dinge verbunden sind, da geht es ja auch um Dinge wie Stigmatisierung und Ausgrenzung, also soziale und politische Dimensionen, die mit so einem Test verbunden sind. Das ist auch der Grund, warum in Osteuropa 70 Prozent der Menschen ihre Diagnose nicht kennen, weil ein positives Ergebnis verbunden ist mit einer Stigmatisierung. Da ist die Motivation, so einen Test zu machen, natürlich nicht groß.

Seit den 80er Jahren wird zumindest in Deutschland über HIV und AIDS aufgeklärt und trotzdem lassen viele beim Sex einfach das Kondom weg, weil sie denken, da passiert schon nichts. Dann scheinen Aufklärungskampagnen ja nicht so gut zu wirken, oder?

Nein, das hat alles schon seine Wirkung gehabt, aber es hat sich auch inzwischen vieles verändert. Eine gewisse Müdigkeit beim Thema AIDS, dann die gute Behandelbarkeit, der Schrecken ist weg, aber AIDS ist ja kaum noch ein Thema in der Gesellschaft, außer wenn mal eine prominente Person sich mit HIV infiziert hat.

Oder könnte man auch sagen: etwa 3000 Neuinfektionen pro Jahr in Deutschland, das ist akzeptabel?

Jede Neuinfektion ist nicht akzeptabel. Auch, wenn wir bessere Zahlen haben als andere Länder.

Werden wir AIDS jemals besiegen?

Ich glaube, dass man nicht aufgeben sollte, aber ich glaube, dass der Weg ein unheimlich langer ist und dass wir das noch erleben in den nächsten zwanzig Jahren halte ich für relativ unwahrscheinlich.

Interview: Marlis Schaum

Redaktion: Ulrike Wolpers