1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kinder im chilenischen Erdbebengebiet

15. März 2010

Einmal mehr leiden vor allem Kinder unter den Folgen des katastrophalen Bebens im Süden Chiles. Besonders hart trifft es die Kinder der Unterschicht. Das Bild von der im Schicksal geeinten Nation bekommt Risse.

https://p.dw.com/p/MTkn
Ein in beim Beben im süchilenische Conecpción in der Mitte entzwei gebrochenens Gebäude (Foto: AP)
Das Beben der Stärke 8,8 gehörte zu den stärksten jemals gemessenenBild: AP

"Als das Beben begann, habe ich mir die Bettdecke über den Kopf gezogen. Es war, als ob die Welt untergeht."

"Ich dachte, das Haus bricht über mir zusammen. Steine und Mauerstücke sind auf mein Bett gefallen."

"Wir haben das Wasser kommen gesehen, alles war dunkel, wir sind nur noch den Hügel hoch gerannt wie unsere Nachbarn auch."

Vom Erdbeben betroffene Kinder in einer provisorische Zeltstadt (Foto: DW / Thomas Nachtigall)
Viele leben weiterhin in NotunterkünftenBild: Thomas Nachtigall

Der Schrecken hat für die Kinder im chilenischen Erdbebengebiet auch nach zwei Wochen kein Ende genommen. Die 12-jährige Maria-Paz will mir gerade ihre zerstörte Schule im Fischerort Coronel zeigen, als ein neuer Erdstoß den Boden schwanken lässt. Augenblicklich ist die Angst wieder da, und wir flüchten uns gemeinsam mit hunderten Anderer auf eine Anhöhe während Radio Bio-Bio eine Tsunami Warnung ausstrahlt. Erst nach vier Stunden wird sie aufgehoben.

Keine verlässlichen Opferzahlen

Kinder gehören zweifellos zu den Hauptbetroffenen der Naturkatastrophe – auch wenn es noch keine endgültige Opferstatistik gibt. Und unter den Kindern sind es meist die aus der Unterschicht, die besonders leiden. Eingestürzt und weggeschwemmt sind vor allem alte Lehm und Ziegelbauten. Die Viertel der Mittel und Oberschicht hat es dagegen kaum getroffen, auch wenn einzelne schlecht konstruierte Appartementblocks kollabierten.

Es sind Fischerfamilien, Landarbeiter und ambulante Händler, die immer noch in Zelten und Notunterkünften leben. Oft haben sie nicht nur Verwandte und Wohnung sondern auch ihren Arbeitsplatz verloren und müssen im vergleichsweise reichen Chile mit bescheidener Starthilfe vorliebnehmen.

Zwei Männer laufen am 3. März 2010 nach einer fälschlichen Tsunami-Warnung durch die zerstörte Stadt Concecpion (Foto: AP)
Die Angst läuft mit: Immer wieder versetzen Nachbeben oder auch Falschmeldungen die Menschen in Panik. Die Angst der Eltern droht sich auf die Kinder zu übertragenBild: AP

Glück im Unglück hatten Lehrer und Schüler der Talcaer Sonderschule für geistig Behinderte.

Mit Unterstützung der deutschen Kindernothilfe konnten sie im Dezember einen Neubau beziehen der unbeschädigt blieb, während das alte Gebäude wie ein Großteil der Innenstadt in Trümmern liegt.

"Gelegenheit schaffen, vergessen zu können."

Schulleiter Hektor Matuz will den Kindern die Möglichkeit geben, in der Gruppe über das Erlebte zu sprechen; solange es auch immer nötig ist. Genauso wichtig sei jedoch die psychische Stabilisierung. Die Kinder bräuchten nun vor allem emotionale Zuwendung, Stabilität, Umarmungen. "Wir müssen ihnen zuhören und Gelegenheit geben, über das Erlebte zu sprechen", sagt Rektor Matuz. Aber auch eine andere, eine sichere, Umgebung müsse man den Kindern anbieten, Sport und Ablenkung, so dass sie vergessen könnten.

(Foto: DW / Thomas Nachtigall)
Bei der Flucht den Arm zertrümmert: Gonzalo, 15 JahreBild: Thomas Nachtigall

Doch noch ist offen, ob der Schulleiter das bevorstehende neue Schuljahr eröffnen kann. Viele Kinder hängen im Wortsinne an ihren Eltern, können sich nicht trennen oder weigern sich strikt, geschlossene Gebäude zu betreten. Eine Lehrerin nimmt mich zu einem Hausbesuch mit.

Die im Schicksal geeinte Nation – ein Trugbild?

Wir treffen auf eine Familie, die seit zehn Tagen mit zwei behinderten Söhnen ohne fließendes Wasser in einem Innenhof ausharrt. Der Kleine verstehe nicht viel, berichtet die Mutter. Bei jedem Nachbeben klammert er sich an sie. Dann zittere er regelrecht. Aber sie sei selbst am Ende ihrer Kräfte. "Es ist einfach zuviel, ohne Strom, ohne Wasser, wir hatten noch nicht mal Mehl, um Brot zu backen".

Eltern dürften ihre eigene Angst nicht den Kindern aufbürden, wiederholen Psychologe täglich in Radio und Fernsehen. Doch das ist leichter gesagt als getan, in einem Land dass sich - der immer wieder beschworenen nationalen Schicksalsgemeinschaft zum Trotz - als tief gespalten erweist.

Patroullierende Soldaten in Talcahuano (Foto: DW / Thomas Nachtigall)
Soldaten beherrschen das Straßenbild von TalcahuanoBild: Thomas Nachtigall

Wohnort und sozialer Status entscheiden darüber, wie die Naturkatastrophe verarbeitet werden kann. Während Mittelschichts-Kinder in der Hauptstadt per Internet ihren Freunden in Europa oder den USA vom Beben berichten, stehen ihre Altersgenossen in den Armenvierteln von Talcahuano stundenlang vor einem Hydranten Schlange. Oft blicken sie dabei in Gewehrmündungen. Denn noch immer beherrschen 14.000 Soldaten das Straßenbild. Sie beendeten die Plünderungen der ersten Tage mit Schüssen und Ausgangssperren.

Was sie sich am dringendsten wünscht, frage ich die 18-jährige Loretta. "Ich wünsche mir nur, dass sich das alles beruhigt, ich wünsche mir eine Wohnung, und dass ich lernen kann." Eigentlich würde jetzt ihr erstes Jahr an der Universität beginnen. Aber wegen der zerstörten Brücke komme man ja noch nicht mal bis ins benachbarte Concepción.

Autor: Thomas Nachtigall

Redaktion: Sven Töniges