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Der Spiegel vom 29.12.2012: "Leute! Mehr Clara, bitte!"

25. Januar 2013
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In Bremen spielt die Musik - heute besser denn je. Die dortige Kammerphilharmonie gehört zu den stärksten Orchestern Deutschlands. Mit einer DVD lässt sich das Ensemble jetzt in die Konzertkarten schauen.

Diese Bremer Kammerphilharmonie ist zu fast allem fähig! Das zeigte das Ensemble am 16. Oktober 2012 in der Hamburger Laeiszhalle, als unter Leitung des dirigierenden Top-Pianisten Pierre-Laurent Aimard das vertrackte Klavierkonzert von Györgi Ligeti auf dem Programm stand. Polyrhythmische Strukturen, feinste Klanggestaltung, schwierige melodische Details: Das Orchester, zu einer Solisten-Truppe konzentriert, hatte nur 22 Minuten für den brillanten Wahnsinn, die Essenz von Ligetis Musik, die in dem Konzert liegt.

Wer mit einem derart anspruchsvollen Werk ein auf Mozart wartendes Auditorium zu Jubelstürmen hinreißen kann, darf stolz sein. Auch wenn mit Aimard ein Zauberer am Pult stand, der das Konzert zuvor in pointierten Worten dem Publikum haarklein erklärte. So etwas gelingt nur, wenn man sich seiner Sache sicher ist. Und so sicher darf man sich bei einem Orchester wie der Kammerphilharmonie Bremen sein.

Jetzt lässt sich das Ensemble in neuen DVD-Produktionen ein wenig in die Karten schauen: "Schumann At Pier 2" enthält nicht nur Konzert-Aufnahmen, sondern auch eine Filmdokumentation. Über das Orchester, seine Musikerinnen und Musiker und vor allem den Leiter , Paavo Järvi, der seit 2004 im Amt ist und den Klangkörper zu enormem Ansehen geführt hat. Warum es an der Weser derzeit so gut funktioniert, zeigt die DVD: Es geht nicht nur um Konzerte, sondern ums Musizieren generell - auch wenn sich die Aufführungen an ungewöhnlichen Orten und unter erschwerten Bedingungen ereignen.

Raus aus dem Konzertsaal-Ghetto

Die Kammerphilharmonie Bremen versteht sich ohnehin nicht als hermetischer Musikorganismus, man geht in Schulen und zu Jugendlichen, die nicht unbedingt von allein den Weg zur klassischen und modernen Konzertmusik finden. Gemeinsam wird an Musik und Hörenlernen gearbeitet, für die Aktivitäten ist das Ensemble weit über die Grenzen seiner Heimatstadt geachtet.

Diesmal ging es in eine alte Schweißerhalle am Bremer Hafen, denn ihre Konzerte sollen aus dem Konzertsaalghetto heraus. Für das Schumann-Event im Industrie-Ambiente wurde eine eigene Bühne mit einem speziell gestalteten Konzertsaal entworfen, der sowohl dem angestrebten trockenen Orchesterklang angepasst sein sollte wie auch der kommunikativen Live-Atmosphäre. Dieser Entstehungsprozess ist im "Making Of" auf der DVD ebenso dokumentiert wie der kreative Prozess.

Und um das, was das Besondere an dieser Kammerphilharmonie ist, ein Gesicht zu geben, hat sich Regisseur Christian Berger einiges einfallen lassen. Natürlich wurden nicht nur der eloquente Pultchef Paavo Järvi zum Schumann-Projekt interviewt und bei der Arbeit gefilmt, sondern auch ausgewählte Musiker des Ensembles. Und die haben eigene Gedanken, die sie nicht nur formulieren, sondern in Parts auch musikalisch darstellen.

Es geht um Akzente, Klangprobleme und wie Zusammenspiel austariert wird. Man spürt schnell, dass es eines so vielschichtig denkenden Leiters wie Järvi bedarf, um ein selbstbewusstes Orchesters wie dieses nicht nur zu leiten, sondern seine Eigenheiten zu fördern. Orchesterarbeit erscheint auf einmal transparent. Wenn Friederike Latzko, die Stimmführerin der Bratscher, mal solo vorführt, mit welcher Bogengewalt sie ihren Einsatz gegen die geballten Blechbläser verteidigen muss, dann erzählt das viel über die Mosaiksteine und Mühen, die zur Schaffung eines individuellen Ensembleklanges beitragen.

Paavo Järvi gelingt es dennoch mit leichter Hand, unter den Individualisten die Führungsrolle einzunehmen, denn immer wieder überrascht er mit fordernden Ideen und Ansätzen und spürt kleinsten Nuancen nach. Clara Schumann, die Ehefrau des Komponisten, taucht für ihn in vielen Klangwendungen der Noten auf. "Clara" singt es für Järvi in Schumanns Musik immer wieder, so dass der Name zu einer Chiffre für Details geworden ist. "Wenn ich sage, 'Etwas mehr Clara, bitte'!, so wissen alle, was gemeint ist", sagt der Maestro lächelnd. Es versteht sich von selbst, dass man von Järvi und der Bremer Kammerphilharmonie in Sachen Schumann hier essentiell Neues zu hören bekommt - ähnlich wie bei den Beethoven-Symphonien, für die 2010 der Echo Klassik ("Dirigent des Jahres") nach Bremen ging.