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Der Ton in der deutschen Politik ist oft kleinkariert und selbstgerecht

1. September 2005

Was denken Deutsche im Ausland über ihre Heimat und die vorgezogenen Neuwahlen? DW-WORLD hat bei deutschen Zeitungen im Ausland nachgefragt. Diesmal: Einschätzungen vom jüdischen Wochenmagazin Aufbau aus den USA.

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Die Arbeit für den "Aufbau" hat mir nach meiner Umsiedlung von Hamburg nach Connecticut im Sommer 1996 ganz unerwartet die Gelegenheit zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und dem tagespolitischen Geschehen in der Bundesrepublik gegeben. Die Zeitung, 1934 in New York von deutsch-jüdischen Flüchtlingen gegründet und im vergangenen Jahr von der Jüdischen Medien AG in Zürich übernommen, hat sich zwangsläufig seit jeher mit der ehemaligen Heimat ihrer Leser beschäftigt und wurde in der Nachkriegszeit zu einer Stimme, die bis heute für Dialog und kritische Auseinandersetzung mit Deutschland plädiert.

Wenig Interesse in der US-Presse

Das Blatt erscheint seit Januar 2005 als Monatsmagazin und setzt seither in jeder Ausgabe einen Schwerpunkt. In der September-Ausgabe nimmt der Aufbau die Wahlen zum Anlass, Probleme und Chancen des Landes zu diskutieren. Dabei ist es erstaunlich, dass der anstehende Urnengang in der US-Presse bislang recht wenig Interesse ausgelöst hat, was sich durch den laufenden Irak-Krieg teilweise, aber nicht wirklich befriedigend erklären lässt. Unsere Recherchen für den "Wahl-Fokus" haben gleichwohl bestätigt, dass in den USA etwa im akademischen Bereich eine sehr nachhaltige Auseinandersetzung mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Geschehen in Deutschland betrieben wird.

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Bild: aufbau

Dabei wurde im Gespräch mit dem Wirtschaftshistoriker Harold James (Princeton) und dem Politologen Andrei Markovits (Uni Michigan) deutlich, dass sich Experten, die von ganz verschiedenen Positionen aus arbeiten, in etlichen zentralen Erkenntnissen erstaunlich einig sind: Beide sehen enorme Potentiale, dynamische Unternehmen und Individuen, aber auch Blockaden und ein reflexhaftes Bemühen, letztlich nicht rettbare Besitzstände zu bewahren. Der mit der Geschichte der deutschen Linken und der Arbeiterbewegung vertraute Markovits kommt ebenso wie der eher "wirtschaftsliberal" argumentierende James zu dem Schluss, es sei unvermeidlich, dass es ökonomisch "Gewinner und Verlierer" geben wird und eine Revitalisierung der deutschen Wirtschaft nur durch eine umfassende "Öffnung" bewerkstelligt werden kann.

Diese betrifft die Immigration – die Deutschen kommen laut James nicht umhin, sich "an Nachbarn zu gewöhnen, die aus ganz anderen Kulturkreisen stammen" – bis hin zu Verlängerung der Lebensarbeitszeit, teilweiser Privatisierung der Renten, Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen. Gerade Professor James hielt aber auch mit seiner Kritik an den Banken nicht zurück, die eine viel zu geringe Bereitschaft zeigen würden, Leute mit neuen Ideen zu unterstützen. Dabei ziehe gerade die deutsche Wirtschaft ihre Kraft aus dem Unternehmergeist kleinerer und mittlerer Firmen. Dies ist übrigens laut James auch in den USA so. Nur existiere hier eine vitale "Venture-Capital"-Infrastruktur, die permanent Neugründungen in großer Zahl ermögliche.

Hysterische Attacken statt sachlicher Debatte

Ich habe in den letzten acht, neun Jahren vieles neu an Deutschland schätzen gelernt: Staatsbürgerliches Bewusstsein und die Fähigkeit, hoch entwickelte technische und intellektuelle (Produkt-)Lösungen für komplizierte Probleme zu finden, sind in Deutschland sehr viel stärker greifbar, als in den USA, wo allzu oft nach dem Motto "the bigger, the better" verschwendet und geschlampt wird. Doch gleichzeitig befremdet mich persönlich ein in der deutschen Politik und Öffentlichkeit herrschender Ton, der mir ebenso kleinkariert und selbstgerecht, wie weltfremd vorkommt: Ständig ist von Krise, Opfern und dringendem Reformbedarf die Rede, aber wagt sich ein Politiker – wie zuletzt der CDU-Mann Kirchhof – mit Denkanstössen in die Arena, hagelt es umgehend hysterische Attacken ad personam. Eine unvoreingenomme, sachliche – auf das so oft beschworene "Gemeinwohl" zielende – Debatte scheint kaum möglich. Und statt die so ganz eigene und für in der alten Bundesrepublik sozialisierte Westdeutsche nur schwer nachvollziehbare Gedankenwelt von Angela Merkel auszuloten, wird über die banalen Streitereien zwischen ihr und Herrn Stoiber diskutiert.

Für den Aufbau ist eher von Belang, wie Frau Merkel nach ihrer Sozialisation in der DDR über die "historische Verantwortung" Deutschlands denkt, die längst zum inhaltsleeren Mantra geworden ist und die unsäglichen Debatten über die "Deutschen als Opfer" von Vertreibung und Bombenkrieg nicht verhindern konnte. Auch hier sind ein Neuanfang und eine Öffnung notwendig, die das Miteinander von Deutschen und "Nicht-Deutschen" jedweder Herkunft zu einer Selbstverständlichkeit werden lassen. Leider konnte uns Frau Merkel in letzter Minute dazu dann doch kein Interview geben. Aber versuchen wird der Aufbau das sicher noch mal.

Andreas Mink ist Redakteur für den Aufbau in den USA. Er lebt in Mystic, Connecticut