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Der Trübsalsrekord

22. Januar 2010

Der Bundestag hat über einen Staatshaushalt mit Rekordschulden beraten. Schon ein Grund, Trübsal zu blasen - aber für einen Trübsalsrekord? Der wurde jetzt in Berlin auch aufgestellt - doch nicht wegen der Schulden.

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Fernschreiber Berlin (Grafik: DW)
Bild: DW

Den erlösenden Moment habe ich verpasst. Als ich gestern zur Arbeit ging, war der Himmel grau. Als ich am Abend nach Hause ging, war der Himmel grau. Als ich heute morgen wieder zur Arbeit ging, war der Himmel erneut grau. Und als ich jetzt eben kurz mal auf die Straße ging, damit mir in der frischen Luft vielleicht ein guter Einstiegssatz für diesen Text einfällt…

Schon letzten Sonntag war der neue Rekord aufgestellt worden: Zwölf Tage hintereinander, an denen in Berlin keine Sonne zu sehen war. Noch nie seit 1951, seit die sonnenlosen Tage aufgezeichnet werden, gab es hier so viele Tage hintereinander, an denen sich unser Zentralgestirn nicht zeigte. "Trübsalsrekord" nannte das eine Berliner Lokalzeitung. Und dieser Trübsalsrekord wurde seitdem mehrfach überboten: 13 Tage am Montag, 14 am Dienstag, 15 am Mittwoch.

Oben mehr Trübsal als unten

Nun ist es aber beileibe nicht so, dass die Menschen in Berlin deshalb Trübsal blasen. Sofern sie mit grimmigem Gesicht durch die Stadt laufen, liegt das daran, dass der Berliner an sich gerne mit grimmigem Gesicht durch die Stadt läuft, selbst wenn die Sonne scheint. Und wenn die Berliner in der S-Bahn ein besonders grimmiges Gesicht aufhaben, dann liegt das daran, dass dieses wichtige Nahverkehrsmittel nun schon über ein halbes Jahr nach einem Notfahrplan und mit verkürzten Zügen fährt, weil aus Renditegründen bei der Wartung gespart wurde und jetzt nicht mehr genügend einsatzfähige Züge zur Verfügung stehen. Nein, die Trübsal des Himmels greift nicht auf die da unten über.

Das wiederum dürfte daran liegen, dass wir keineswegs seit bald zwei Wochen in Düsternis durch die Stadt tapsen müssen. Denn der Trübsal ging kräftiger Schneefall voraus, und im Weiß des Schnees sieht die Stadt so düster gar nicht aus, selbst wenn dicke Wolken über ihr hängen. Nachts ist es sogar viel heller als sonst. Die Straßenlaternen spiegeln sich im Schnee, das Licht der Autoscheinwerfer reflektiert in alle Richtungen. Die Eisschollen, die auf der Spree treiben, flimmern im Licht, das durch die großen Glasflächen der Bundestagsgebäude links und rechts von ihr dringt. Zwischendurch wurde der Schnee vom Großstadtdreck grau und unansehnlich, doch kam mehrfach etwas frischer Puderzucker darauf. Ja, bei Licht besehen sie sind sogar schön, diese Wintertage in der Stadt. Obwohl, ein bisschen Sonne…

Als die Sonne die Trübsal durchbrach

Am Donnerstag allerdings, da hat tatsächlich für wenige Minuten eine runde gelbe Scheibe milchig durch eine Wolkenlücke geleuchtet. Ein Pärchen, das gerade vom Reichstag Richtung Kanzleramt schlenderte, soll sie gesehen und einen entgegenkommenden Mann gefragt haben: "Entschuldigen Sie, ist das die Sonne oder der Mond?" Der aber habe gepasst: "Tut mir leid, ich bin auch nicht von hier."

Nun, für Einheimische war klar, dass es sich um die Sonne handelte - sofern sie sich noch an sie erinnern konnten. Ich selbst habe sie leider nur abends im Lokalfernsehen gesehen, nicht in echt. Diesen erlösenden Moment, als die Sonne die Trübsal durchbrach, diesen erhabenen Augenblick muss ich in künstlichem Licht entweder vor dem Computerbildschirm oder im Konferenzraum gesessen haben. Und seitdem ist es wieder trübe.

Autor: Peter Stützle

Redaktion: Kay-Alexander Scholz