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60 Jahre Deutschland kulinarisch-politisch

11. Mai 2009

Von 1949 bis heute. Ingke Brodersen und Rüdiger Damman unternehmen in ihrem Buch "Mahlzeit" eine kulinarische Zeitreise, servieren Küchenklassiker, Modegerichte und politische Geschichten

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Toast Hawaii
Toast HawaiiBild: picture-alliance / Cimbal, Walter / StockFood

Die Erfindung des Toast Hawaii ist eine Erfolgsgeschichte, auch wenn das Gericht Köche und Feinschmecker schaudern lässt. Eine Scheibe Toast, darüber gekochter Schinken, Ananasring aus der Dose und noch eine Scheibe Käse. Anschließend das Aufgetürmte in den Backofen schieben, nach wenigen Minuten ist der Käse zerlaufen und der nachkriegsdeutsche Traum vom exotischen Genuss fertig. Erfüllt hat diesen Traum Clemens Wilmenrod alias Carl Clemens Hahn. Am 20. Februar 1953 ging der korpulente Plauderer zum ersten Mal im Ersten Deutschen Fernsehen auf Sendung, "Bitte in zehn Minuten zu Tisch-Kochkunst für eilige Feinschmecker". Ein Schauspieler durfte sich als Koch ausgeben und dazu noch mit allerlei ins Bild gerückten Haushaltsgeräten und Lebensmitteln Schleichwerbung treiben, wie eine Zeitung später aufdeckte.

Man ist, was man isst

Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann lassen in ihrem Buch "Mahlzeit“ vieles in Anekdoten und Bildern vorüber ziehen: klassische Gerichte und Ernährungsmoden. Sie verknüpfen Königsberger Klopse mit der Geschichte vertriebener Schlesier und das Müsli der Ökobewegten mit der Sehnsucht nach einer besseren Welt. Ihr Ziel:

Die Bundesrepublik im Spiegel ihrer wechselnden Speisen zeigen, denn, so ihr Credo: "Was wir essen und trinken, legt historisch Zeugnis ab: Gerichte offenbaren Lebensweisen und Einstellungen, gesellschaftliche Realitäten und Mentalitäten.- Man ist, was man isst", betonen die Autoren.

Ravioli für die Emanzipation

Ravioli aus der Dose Copyright: DuMont
Ravioli aus der DoseBild: DuMont

Fertiggerichte wie Ravioli markieren die Zeit der Gleichberechtigungsgesetze. Die schnelle Küche ermöglichte Ende der 50er Jahre die Emanzipation vom Dasein als Vollzeit-Hausfrau, auch wenn sie erst Jahre später verwirklicht wurde. Die gefüllten Teigtaschen sind übrigens immer noch ein Renner: 2007 wurden 40 Millionen Dosen davon in Deutschland verkauft. Und was wäre die Bundesrepublik ohne die italienischen Gastarbeiter, die nicht nur kräftig am deutschen Wirtschaftswunder mitarbeiteten, sondern auch die kulinarische Landschaft um Pizza und Spaghetti bereicherten.

Geschichte als Nummernrevue

Käseigel Copyright: DuMont.
KäseigelBild: DuMont

Doch sind Gerichte mehr als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen und Einflüsse. Sie wirken auch als Zeichen. Ernährung ist ein Bekenntnis zu Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein, ein Symbol für Status und Lebenswelt: Müsli versus Hamburger, Stopfleber kontra Schweinebraten. Leider gelingt es den Autoren nicht immer, ihre munter erzählten Geschichten kausal zu verknüpfen. Stattdessen bieten sie eine Nummernrevue. Viele Kapitel der deutschen Geschichte werden noch einmal kurz beleuchtet und zusammengefasst. Was man in den jeweiligen Jahren aß, wird daneben gestellt. Eine Parallele, nicht mehr. So haben die Vorliebe für Butter und andere hochkalorische Lebensmittel keine weitere Verknüpfung mit dem Interesse der Deutschen am Schah von Persien und seinen Frauen. Die Verbindung zwischen Blutwurst und Bildzeitung ist allenfalls lautlicher Natur. Und dass der berühmte Käseigel etwas von einem Raumschiff hat, lässt sich kaum mit der Raumfahrtbegeisterung der späten 60er Jahre verknüpfen.

Geistreich und unterhaltsam

Sushi Copyright: DuMont
SushiBild: DuMont

Dafür wird man reichlich mit munter-sprachgewandten Beschreibungen entschädigt. So bemerken die Autoren zum Sushi-Boom in Deutschland: "Die einstige Trendspeise für Börsen- und Techno-Yuppies mauserte sich zum gesunden Fast Food für Jedermann." Fischstäbchen werden bei ihnen zum "Backfisch 2.0."

Das ganze wird gewürzt mit einer guten Portion Sozialkritik, womit das Buch auch endet: Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann empfehlen den Vorständen deutscher Chefetagen Arme Ritter. Und dem Deutschen Staat raten sie - ganz unkulinarisch - mit den in der Finanzkrise arbeitslos gewordenen Brokern die mickrige Zahl von 2100 Steuerfahndern aufzustocken. – Mit diesem reichlich bebilderten Potpourri ist "Mahlzeit" nicht das, was es verspricht und sein will, aber trotzdem ein gelungenes Werk: informativ, geistreich und unterhaltsam.

Autor: Günther Birkenstock

Redaktion: Gabriela Schaaf

Ingke Brodersen, Rüdiger Dammann: Mahlzeit! 60 Jahre Deutschland - Eine kulinarische Zeitreise. 251 S. m.zahlr.farb.Abb. Dumont Buchverlag 2009. 24,95 Euro