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Der vergessene Krieg

Rosalia Romaniec16. Juni 2014

Welche Bedeutung hat der Erste Weltkrieg für den Osten Europas? Diese Frage bildete den Kern einer Diskussionsrunde des Auswärtigen Amts zum Gedenkjahr 1914/2014. Die Sichtweisen gingen weit auseinander.

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Erster Weltkrieg deutsche Soldaten 1916 Ostfront
Bild: picture alliance/akg-images

Als das Auswärtige Amt seinerzeit die Veranstaltungsreihe "1914/2014 - vom Versagen und Nutzen der Diplomatie" zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs plante, hätte wohl niemand vermutet, dass noch so viel Aktualität in diesem Thema stecken würde. Gleich zu Beginn der Debatte "Kaiserreiche in ihrem letzten Kampf - die imperiale Spätzeit als Sicherheitsrisiko" schlug Außenminister Frank-Walter Steinmeier einen Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart: "Ist eine europäische Katastrophe wie die von 1914 nicht mehr vorstellbar?" fragte der deutsche Außenminister. Schließlich sei der Osten Europas "eine Region, in der es gerade in diesen Tagen ganz besonders darauf ankommt, mit Vernunft und Augenmaß zu sprechen und noch mehr zu handeln."

Doch im Kern blieb die Diskussion über die Folgen der Politik der imperialen Mächte vor 100 Jahren eine historische. Die Gäste - der russische Historiker Igor Narskij und der polnische Publizist Adam Krzeminski - schilderten die Perspektiven ihrer Heimatländer auf die Ereignisse des Jahres 1914 und zeigten eine in Westeuropa wenig bekannte Sichtweise auf.

Für Russland: Die vergessene Schande

Blick ins Auditorium der Podiumsdiskussion im Deutschen Historischen Museum Berlin (Foto: Rosalia Romaniec)
Angeregte Debatte im Deutschen Historischen MuseumBild: DW/R. Romaniec

"Der Erste Weltkrieg war für Russland eine Schande", sagte Narskij und zählte mehrere Gründe auf: "Zuerst war er verloren und dann herrschte noch der separate Frieden, den die Bolschewiki mit Deutschen geschlossen hatten." Der Erste Weltkrieg stecke den Russen "bis heute in den Knochen", weil er zu einer Mobilisierung und Militarisierung der russischen Gesellschaft geführt habe. Auch deshalb gebe es in Russland heute kaum eine Erinnerungskultur an diesen Krieg. Gedenkveranstaltungen, wie diese hier im Deutschen Historischen Museum, gebe es dort nicht.

Vielmehr bliebe das kollektive Gedächtnis am anschließenden Bürgerkrieg und dem russisch-polnischen Krieg von 1920 hängen, meinte Narskij. Diese Erinnerung habe den Ersten Weltkrieg verdrängt, denn der Bürgerkrieg sei für die Russen wesentlich blutiger und dramatischer gewesen als die ersten Jahre nach 1914, erklärte der Historiker und sprach von einem aus der russischen Sicht "vergessenen Krieg". Auch im Fall Polens sei es ähnlich gewesen, denn dort verbinde man den Gründungsmythos des Nationalstaates erst mit dem polnisch-russischen Krieg von 1920.

Für Polen: Die ersehnte Unabhängigkeit

Der polnische Gast, Publizist Adam Krzemiński, unterstrich jedoch, die Erinnerung seines Landes an den Ersten Weltkrieg sei präsenter als in Russland in diesem Jubiläumsjahr, wenngleich weniger als in Westeuropa. Dass das kollektive Gedächtnis in diesem Punkt tatsächlich ein schwer zu erfassendes Kapitel ist, hat mehrere Gründe. Einen nannte Außenminister Steinmeier während der Diskussion: "Wem ist hier bewusst, dass die Polen gezwungen waren, in Armeen dreier Kaiser gegeneinander zu kämpfen?"

Steinmeier während der Podiumsdiskussion im Deutschen Historischen Museum Berlin (Foto: Rosalia Romaniec)
Außenminister Frank-Walter Steinmeier während der PodiumsdiskussionBild: DW/R. Romaniec

In der Tat war es keine Seltenheit, dass Verwandte einer Familie, die durch die Teilungen in unterschiedlichen Einflusszonen lebten, von gegenüber liegenden Schützengräben aufeinander schossen. Erst 1920 stand das Volk vereint auf einer Seite - im Krieg gegen Russland, in dem es seine Ostgebiete verteidigte.

In Polen verbinde man den Ersten Weltkrieg vor allem mit der nach 123 Jahren wieder gewonnenen Unabhängigkeit. "Während Russland als Hauptverlierer aus dem Ersten Weltkrieg hervorkam, war Polen einer der Hauptnutznießer der Urkatastrophe", sagte Adam Krzemiński. Nachdem Polen Ende des 18. Jahrhunderts durch das Zarenreich, Österreich-Ungarn und Preußen geteilt worden war, wurde es erst 1918 wieder zum unabhängigen Staat und kehrte mit Ende des Ersten Weltkriegs auf die europäische Landkarte zurück. Krzemiński unterstrich aber, dass die Polen ihre Staatsgründung keinesfalls als Geschenk der neuen Siegermächte, sondern "als das Ergebnis nationaler Erhebungen, jahrzehntelanger informeller Diplomatie, sowie diplomatischer Flankierung während der Friedenskonferenz" sähen.

Die Zeit der Imperien ist vorbei

Während man in der Frage gespalten blieb, was Europa 2014 aus den Fehlern von 1914 lernen kann, waren sich alle Teilnehmer in einem Punkt einig: Das Jahr 1914 war kein Urknall, der eine heile Welt zerstörte, sondern die Folge unheilvoller Entwicklungen im Europa des 19. Jahrhunderts.

Der polnische Publizist Andrzej Krzeminski während der Podiumsdiskussion im Deutschen Historischen Museum Berlin (Foto: Rosalia Romaniec)
Der polnische Publizist Adam KrzeminskiBild: DW/R. Romaniec

Adam Krzemiński ging zum Schluss auch auf die Rolle der Selbstbestimmung der Nationen ein. Dabei warnte er davor, "kleinere" Völker nicht ernst genug zu nehmen und erinnerte an die in der Weimarer Republik vorherrschende Meinung, Polen sei nach der wieder gewonnen Unabhängigkeit lediglich ein "Saisonstaat". "Wenn das so gestimmt hätte, dann müsste das aber auch für die Wiedervereinigung der Deutschen 1989 gelten", sagte Krzemiński provokativ. "Die 'Saisonstaaten' von damals, darunter auch Polen, haben sich im 20. Jahrhundert behauptet, trotz erneuter Teilungen und Annexionen durch totalitäre Mächte, die allesamt gescheitert sind", ergänzte der Publizist und knüpfte an die Rede von Barack Obama kürzlich in Warschau an. Demnach sei die Zeit der Imperien und der Einflusszonen vorbei. "Eine bemerkenswerte Feststellung", sagte Krzemiński, "bedeutet sie doch, dass auch die USA kein Imperium alten Stils sind, von der EU gar nicht zu reden."