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Der Wanderzirkus und die Millionen

Alexander Kudascheff26. April 2006

Von Brüssel nach Straßburg und zurück: Der EU-Wanderzirkus ist berüchtigt. Er ist teuer. Er ist umständlich. Er ist sinnlos. Und doch eine lieb gewordene Unsitte, an der kaum jemand rütteln will.

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Fernschreiber Autorenfoto, Alexander Kudascheff

Einmal im Monat trifft sich das europäische Parlament zu einer Sitzungswoche in Straßburg. Dafür ziehen alle aus Brüssel um - die Parlamentarier selbst, ihre Mitarbeiter, die Pressesprecher der Fraktionen und der Parteien, die Brüsseler Journalisten, die Lobbyisten natürlich meist auch - ihre Einladungen in französisch/elsässische Sternerestaurants sind bei allen, selbst den größten Europaskeptikern, begehrt. Tausende von Akten, tausende von bedruckten Vorschlägen in allen Sprachen, die Kommissare (zumindest an zwei Tagen), Teile des Rats, wenn nötig und erwünscht.

Feste Kunden

Gegen diesen Wanderzirkus ist das Wanderkaisertum zu Zeiten Karl des Großen eine bescheidene Sache gewesen. Aber dem französischen Stolz ist die Entscheidung geschuldet - und niemand wagt es in Brüssel Paris herauszufordern, dass doch eigentlich ein Sitz für das Parlament ausreicht. Denn dann - das ahnen alle - geht`s ab nach Straßburg. Und noch unsinniger als der Wanderzirkus ist die Verlegung ins entfernte Elsass. Also murren alle - außer den Straßburger Hoteliers und Restaurants. Denn sie rechnen natürlich gerne mit den festen Kunden, die zum Teil schon für vier Jahre im voraus ihre Zimmer gebucht haben - und natürlich mit ihren Tagegeldern gerne zum Essen ausgehen.

Nun aber gibt es zumindest einen wahrscheinlichen Skandal. Die Stadt Straßburg (der größte Profiteur des Wanderzirkus) hat wohl als Weitervermieter von Gebäuden (die einem niederländischen Pensionsfonds gehörten) fürs europäische Parlament weit überhöhte Mieten kassiert. Man spricht im Laufe von ein paar Jahren von einer Summe, die bei sicher 27 Millionen Euro liegt, vielleicht aber bis auf 100 Millionen steigen könnte. Seit das bekannt wurde, seit die Alarmglocken schlugen, ist ganz Brüssel aufgeschreckt (von Straßburg wohl nicht zu reden). Haushaltskontrollgremien befassen sich mit dem Fall, OLAF - die europäische Antibetrugsbehörde - ist eingeschaltet, die Revisonsmaschinerie läuft. Soweit so gut. Vor allem kommen jetzt auch Dinge auf den Tisch, die unter der Hand seit langem diskutiert werden. Warum beispielsweise musste das Europäische Parlament 450 Millionen EURO für ein paar Gebäude in Straßburg zahlen, obwohl alle schon damals glaubten, dies sei ein weit überhöhter Kaufpreis? Auch das wird nun aufgerollt. Und der Standort Straßburg und der Wanderzirkus sind im Gerede. Und die eine oder andere Stimme wird leise laut, man könne doch in Brüssel bleiben. Doch gehört werden wird dieses leise Murren nicht. So berechtigt es sein mag.

Keine Frage

Keine Frage: Der Sitz des Parlaments hat ständig Brüssel zu sein. Keine Frage: Der Wanderzirkus ist unsinnig und überflüssig. Keine Frage wohl auch: das Parlament wurde von den Straßburger Behörden balbiert. Keine Frage auch: Vor allem die Liberalen werden wieder den Rückzug aus der elsässischen Metropole fordern. Aber keine Frage auch: Niemand wird wegen ein paar unterschlagener Millionen den Wanderzirkus abschaffen. Mag Frankreich durch die politische Agonie seiner Regierung und seines Präsidenten geschwächt, ja paralysiert sein - sein "Non" donnert schon bevor es überhaupt nötig ist.