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Gysi hebt ab

Bernd Gräßler11. Mai 2014

Gregor Gysis bizarrer Auftritt auf dem Linken-Parteitag ist der eines Popstars. Der Bundesregierung wirft er Einseitigkeit und Duckmäusertum vor. Dann entschwindet er, um die Welt zu retten.

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Linken-Fraktionschef Gregor Gysi winkt den applaudierenden Delegierten (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Ursprünglich sollte Gregor Gysi später reden. Doch dann wurde der Zeitplan geändert und der 66-Jährige trat schon gegen 9 Uhr morgens ans Rednerpult. Eine ungewöhnliche Stunde für ihn selbst, vor allem sonntags, gibt er zu. Als der Linken-Fraktionschef das Mikrofon wieder räumt, hat er kürzer gesprochen als üblich. Er sei den Delegierten eine Erklärung schuldig, warum er jetzt gleich den Parteitag verlasse, sagt Gysi, um 11 Uhr warte im nahen Deutschen Theater ein Termin auf ihn, auf den er sich sehr freue: Ein Gespräch mit dem 100-jährigen Hans Pischner, einem früheren Opernintendanten und DDR-Kulturfunktionär. Und gleich danach werde er, Gysi, zu Gesprächen nach Moskau fliegen. "Das werden sehr fordernde Gespräche, aber ich will meinen Beitrag zur Deeskalation leisten", gibt sich Gysi geheimnisvoll, ohne zu verraten, mit wem er in Moskau reden wolle.

Immerhin ist klar, dass es um die Ukraine-Krise gehen würde, zu der Gysi zuvor seine Gedanken in der ihm eigenen pointierten Form ausgebreitet hatte. "Und deshalb muss ich Euch jetzt sagen: Ciao", ruft Gysi den Delegierten zu, verteilt im Unterschied zu echten Popstars aber keine Kusshände.

"Russland nicht in erster Linie verantwortlich"

Im Wesentlichen wiederholt der Linken-Politiker vor den rund 500 Delegierten des Parteitages im Berliner Velodrom seine Ansichten, die er bereits im Bundestagsplenum und kurz vor dem Parteitag in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" geäußert hatte. In der Ukraine-Krise gingen "alle anderen" - gemeint sind Parteien und Medien - einseitig an den Konflikt heran, indem sie Russland die Schuld zuschöben. Die Linke dagegen leiste sich eine differenzierte Betrachtungsweise. Sie lautet, einstimmig beschlossen auf dem Parteitag: "Anders als es die Bundesregierung darstellt, ist nicht in erster Linie Russland für die Zuspitzung der Situation in der Ukraine verantwortlich". Und - so Gysi - obwohl die veröffentlichte Meinung so einseitig sei, denke die Mehrheit der Bevölkerung anders. Also eher so wie die Linke. Deshalb dürfe die Linke, mit umgekehrten Vorzeichen, nicht selbst einseitig werden.

Eine Warnung, die berechtigt scheint, sieht man sich den mehr als vierseitigen Beschluss des Parteitags zur Ukraine an. Zwar wird in einem Satz eingeräumt, dass die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation völkerrechtswidrig gewesen sei, aber ansonsten wimmelt es von Vorwürfen an den Westen. Und vor allem ist für die Linke klar: Die Regierung in Kiew ist mit Faschisten durchsetzt. "Faschisten" und "faschistisch", diese Wörter tauchten in der Debatte so häufig auf, dass für einen neu Hinzugekommenen im ersten Augenblick wohl nur schwer klar wurde, dass es um die Ukraine ging.

Gregor Gysi, Gabi Zimmer, Bernd Riexinger halten auf dem Parteitag der Linken in Berlin Schilder in die Höhe, auf denen in Englisch und Russisch zu Gesprächen über die Ukraine-Krise aufgefordert wird (Foto: dpa)
"Als einzige nicht einseitig": Die LinkeBild: picture-alliance/dpa

Gysi empfiehlt Regierung eine "neue Ostpolitik"

Die Bundesregierung müsse Kiew sagen: "Erst Faschisten raus aus der Regierung, dann verhandeln wir mit Euch", beharrte auch Gregor Gysi in seiner Rede. Und im einstimmig angenommenen Parteitags-Antrag heißt es, es dürfe keine Finanzhilfen von der Bundesregierung und aus der EU geben, solange Faschisten an der Regierung beteiligt seien.

Neu in Gysis Rede ist der Gedanke einer "neuen Ostpolitik", die er unter Berufung auf Willy Brandts gleichnamiges Projekt aus den Siebziger Jahren der Bundesregierung anempfiehlt. Priorität für die Diplomatie, Respekt vor den Interessen des Ostens und kulturelle Annäherung sollten dazu gehören. Auch für den Umgang mit der US-Administration in der NSA-Affäre hat Gysi einen Vorschlag: Wenn Washington nicht zum Abschlusse eines "No-Spy"-Abkommens bereit sei, solle Berlin die Späher im Berliner Botschaftsgebäude der USA einfach zu unerwünschten Personen erklären. Das wäre doch mal was. Das "Duckmäusertum" der Regierung gegenüber den USA "kotzt mich an", meint Gysi. Snowden müsse im Übrigen den Friedensnobelpreis bekommen.

Eine ungewöhnliche Frage

Die Delegierten begleiten den Abgang des Lieblings der Partei mit stehenden Ovationen. Zwar hat er ihnen eben mal so nebenbei erklärt, seine populäre Interview-Reihe "Gysi trifft ..." im Deutschen Theater sei ihm wichtiger als der dröge Fortgang des Parteitages, doch das scheint die meisten nicht zu stören. Sie wissen, was sie ihm zu verdanken haben. Außerdem ist da ja auch noch die wichtige Mission in Moskau.

Eine knappe Stunde später, Gysi dürfte mittlerweile im Deutschen Theater beschäftigt sein und auf dem Parteitag schleppt sich die Wahl der zahlreichen Vorstandsmitglieder dahin, kommt noch einmal die Rede auf den vorzeitigen Abgang des führenden Genossen wegen dessen Moskau-Mission. "Als ich die Rede von Gregor Gysi gehört habe, hatte ich den Eindruck, dass es hier nur noch einen Staatsmann geben kann, der die Welt rettet", meint ein grauhaariger Delegierter am Saalmikrofon 5 sarkastisch. Er sei sich nicht ganz im Klaren, "wozu wir hier eigentlich noch Vorstandswahlen machen". Die Frage verhallt im Raum.