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"Deutsche" in Orange

30. Juni 2004

Die Niederlande haben es geschafft: Sie haben ihre eigene Uneinigkeit, Schweden und das Elfmetertrauma besiegt, stehen nun im Halbfinale gegen Portugal (18.45 Uhr UTC) - und fühlen sich plötzlich wie Deutschland.

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Die besseren Deutschen?Bild: dpa

Holland freut sich auf das Halbfinale - und wundert sich: Die eigentlich schon abgeschriebene Fußball-Nationalmannschaft hat mit Glück die Vorrunde überstanden, Trainer Dick Advocaat hat seine vorzeitige Demontage mit Mühe abgebügelt - doch jetzt stehen die Niederlanden im Halbfinale der EM. Weil sie zum ersten Mal seit Menschengedenken ein Elfmeterschießen gewonnen haben. Und aus Portugal wird jetzt auch noch vermeldet, dass sich die Spieler prima verstehen - alles andere als selbstverständlich bei dem traditionell divenhaften Konfliktverhalten holländischer Kicker. Ist die "Elftal", das fußballerische Synonym für grandioses Scheitern in Serie, vielleicht auf einmal zu einer effektiven Turniermannschaft geworden?

"Neue Deutsche"

Bislang standen vor allem die fußballerisch wenig geliebten Nachbarn aus Deutschland in dem Ruf zu wissen, wie man ein großes Turnier respektabel bewältigt: Eine verschworene Gemeinschaft bilden, auch mal schlecht spielen (und deswegen nicht ausscheiden), Nervenstärke beweisen und da sein, wenn es zählt.

Die niederländischen Medien wollen nun im bisherigen Turnierverlauf der Niederländer ein Abziehbild einstiger deutscher Darbietungen entdeckt haben: Als die "neuen Deutschen" bezeichnete die Zeitung Algemeen Dagblad vor dem Halbfinale am Mittwoch gegen Gastgeber Portugal in Lissabon (18.45 UTC) das Team von Dick Advocaat. Einmal habe die Mannschaft bei der EM gut gespielt, aber verloren (2:3 gegen Tschechien), befand die angesehene Zeitung. Mittlerweile gelte wohl: "Den Rest mäßig spielen, aber Glück haben - und auf dieser Basis weiterkommen und das Ganze dann erfolgreich abschließen." Anders ausgedrückt: "Man kann sagen, dass die Niederlande auf deutsche Weise ins Halbfinale eingezogen sind." Auch De Telegraaf hat deshalb "gemischte Gefühle".

Holländischer Zweckfußball?

Gemischte Gefühle, die aufkommen, weil effektiver Fußball in Holland gerne als Verrat an der bisher unangreifbaren Offensiv-Maxime angesehen wird. Der Mannschaft scheint der durchaus mögliche Vorwurf, "Zweckfußball" zu spielen, anscheinend ziemlich egal zu sein. Sie beschwört vor dem Halbfinalauftritt in Lissabon ihren Teamgeist. "Wir wachsen in das Turnier hinein. In der Zwischenzeit ist das Gruppengefühl stark gewachsen. Natürlich haben wir auch mal Streit, aber dann geben wir uns wieder die Hand und es geht weiter", erklärt Torjäger Ruud van Nistelrooy. "Oranje schließt endlich die Reihen", lobt deshalb der Volkskrant und behauptet: "Im Vergleich mit 1998 und 2000 hat die Mannschaft viel von ihrer Qualität eingebüßt. Aber das ist auch der Hauptgrund für die Einigkeit."

Freude bei den Holländern, Ruud Van Nistelrooy und Arjen Robben nach dem Elfmeterschiessen
Die Holländer verstehen sichBild: AP

Die neue Einigkeit muss Holland im Halbfinale ohne den Kapitän und Rekord-Nationalspieler Frank de Boer beweisen. Der Routinier zog sich im Viertelfinale einen Bänderriss im rechten Sprunggelenk zu. De Boer war deshalb in der 36. Minute der Partie in Faro ausgewechselt worden. Nach einer Kernspintomographie am Montag stellte sich die Schwere der Verletzung heraus - sein 113. Länderspiel dürfte somit sein letztes gewesen sein. De Boer hatte schon vor der EM seinen Rücktritt angekündigt und will sich das Karriereende noch mit einigen Millionen Petro-Dollars in Katar vergolden.

Im roten Bereich

Mehr Sorge als der Ausfall De Boers macht den Holländern aber die kurze Pause zwischen Viertel- und Halbfinale. Halbfinalgegner Portugal hat bereits am vergangenen Donnerstag gespielt, die "Elftal" erst am Samstag. 120 Minuten Kampf mit den Schweden, weit weniger Erholung als die Gastgeber, dazu die Hitze an der Algarve: "Wir sind im roten Bereich", bekennt Abwehrspieler Phillip Cocu. "Der Geist wird stärker sein als der Körper", verspricht Cocu aber.

"Schwerer Schlag"

Portugal fühlt sich geistig und körperlich bereit für den großen Coup. Nach zwei verpassten Endspielen bei der EM 1984 in Frankreich und vor vier Jahren in Belgien und den Niederlande soll es nun endlich mit der ersten Finalteilnahme klappen. "Ich bin sicher, dass wir es schaffen, weil wir den Heimvorteil nutzen werden", sagte der Mittelfeld-Regisseur Deco. "Es wäre ein schwerer Schlag für unser fußball-verrücktes Land, wenn wir verlieren würden."

Superstar Figo gibt derweil noch immer die gekränkte Diva. "General Felipao" Scolari hatte den Superstar im Viertelfinale ausgewechselt - ein glücklicher Zug des portugiesischen Trainers. Der für Figo gekommene Postiga erzielte den Ausgleich. Die Diskussion in Portugal richtet sich daher eher darauf, ob Figo denn nun in der Kabine gebetet habe oder nicht, als um die Auswechslung an sich - so könnte die Demontage eines Idols beginnen.

Freude auf den "echten Kumpel"

Figos Rolle als Volksheld hat während der EM ohnehin schon ein anderer übernommen - Christiano Ronaldo. 19 Jahre jung, gut aussehend, leichtfüßig, leidenschaftlich, schnell und technisch hoch begabt - und bei Manchester United Kollege des holländischen Superstars Ruud van Nistelrooy. "Ich freue mich auf Ruud. Er ist ein echter Kumpel, aber im Spiel ist die Freundschaft vorbei", kündigte Ronaldo vor dem Duell mit dem Weltklassestürmer an.

Manchester United Cristiano Ronaldo und Ruud Van Nistelrooy
Nach dem Halbfinale wird nur einer jubeln: Manchester United- Cristiano Ronaldo und Ruud Van NistelrooyBild: AP

Personell bangt Portugal um die verletzten Jorge Andrade und Nuno Gomes. Beide Spieler konnten am Montag nicht trainieren. Fernando Couto, der seinen Platz in der Startelf nach der 1:2-Auftaktniederlage gegen Griechenland verloren hatte, und Stürmer Pauleta, der nach Sperre wieder mitwirken kann, stehen als Ersatz bereit. (sams)