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Deutsche in Ungarn

7. August 2002

- Auswertung einer Umfrage zur Ermittlung neuer Sprachinseln sowie zum Gebrauch der Dialekte unter neuangesiedelten Deutschsprachigen in Ungarn

https://p.dw.com/p/2XYg

Budapest, 7.8.2002, PESTER LLOYD, deutsch

Die Besiedlung des Karpatenbeckens mit deutschsprachigen Menschen erfolgte nur wenige Jahre nach der Landnahme durch die späteren Ungarn. Diese Besiedlung fand permanent statt, dabei mehrmals in großen Gruppen und fast immer auch durch Einzelpersonen, Partnerschaften oder Familien. Die Siedler kamen nicht nur aus Bayern, Franken, Schwaben, Sachsen oder dem Harz, sondern auch aus den deutschsprachigen Gebieten, die heute von der Schweiz und Österreich umfasst werden. Dort, wo sie sich niederließen, bildeten sie zunächst relativ autonome Sprachinseln, die sich allerdings auch zu größeren Flächen ausbreiten konnten und sogar ganze Stadtteile oder Städte sprachlich in Besitz nahmen. Die Beispiele Tolna, Schwäbische Türkei oder das im 17. Jahrhundert zu 90 Prozent deutschsprachige Óbuda/Buda sollen nur als Synonyme dafür stehen.

Im Zuge der Veränderung der politischen - und damit einhergehend – insbesondere ökonomischen Verhältnisse, fand im Laufe der Jahrhunderte zunächst eine Integration der Siedler statt. Durch das lebensnotwendige Erlernen der ungarischen Sprache schritt die Assimilation dann aber derart voran, dass sich in den folgenden Generationen die deutsche Muttersprache entweder immer mehr zur Zweitsprache entwickelte bzw. nur noch fragmentarisch, in verkümmerter Dialektform übrig blieb. Auch die zeitweilige Benutzung der deutschen Sprache bei den sogenannten Ungarndeutschen kann nicht als vollwertiger Sprachgebrauch des Deutschen angesehen werden. Erschwerend kommt hier noch hinzu, dass der Gebrauch der deutschen Sprache aus nur zum Teil verständlichen Gründen nach 1945 nicht erwünscht war, mitunter sogar unterdrückt wurde. Die Bemühungen nach der politischen Wende, der deutschen Sprache unter den Ungarndeutschen wieder Stimme zu verleihen, sind nicht weit voran gekommen, da die Assimilation dieser Minderheit bereits zu weit fortgeschritten war. Somit bleibt festzustellen, dass sich die historischen Sprachinseln, die aus den frühen Jahren der Besiedlung stammen, weiter zurückgebildet haben. Neuere Untersuchungen machen zudem auch deutlich, dass ein Bekenntnis zum Deutschtum lediglich die Herkunft betreffe und nichts über die Qualität der Beherrschung des Hochdeutschen und dessen Gebrauch aussage.

Unbeachtet blieb allerdings bisher von der Minderheitenforschung ein Besiedlungs-Phänomen, das erst jüngeren Datum ist, frühestens 1945 begann, in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts seine erste Blütezeit erlebte und seit etwa 1989 beständig zum Wachstum einer nur wenig integrierten und kaum assimilierten deutschsprachigen großen Minderheit in Ungarn beiträgt, die nichts mit den Ansiedlungswellen der letzten Jahrhunderte zu tun hat und in keinem Falle mit den sogenannten Ungarndeutschen (Begriffsbildung durch Jakob Bleyer im 19. Jahrhundert) im Zusammenhang steht. Schätzt man die ungarndeutsche assimilierte Minderheit in Ungarn auf etwa 250.000, so dürfte sich diese Zahl mehr als verdoppeln lassen. Hinzuzuzählen sind jene Deutschsprachigen, die nicht als "Deutsche" oder "Deutschsprachige" mit ungarischem Pass – als sogenannte Ungarndeutsche – firmieren und daher von der ungarischen Minderheitengesetzgebung auch nicht erfasst werden, die mittlerweile aber eine beträchtliche "neue Minderheit" darstellen, die auf etwa 750.000 Personen geschätzt wird. Ohne hier näher auf diese deutschsprachigen Ankömmlinge weit nach Maria Theresias Ansiedlungspolitik einzugehen, sollen doch drei Gruppen dieser neueren deutschsprachigen Minderheit kurz umrissen werden:

1. handelt es sich um sehr wenige nicht-assimilierte Deutschsprachige, die nach dem Zweiten Weltkrieg das Land nicht verlassen mussten und als (Ur)Großelterngeneration noch in deutschen Sprachinseln (mittlerweile überwiegend zweisprachig) in Ungarn leben.

2. sind es solche Deutschsprachigen, die durch bewusste Ansiedlung im Zuge von Berufswahl, Lebensgemeinschaft oder Eheschließung in den folgenden Jahren – meist aus der DDR – nach Ungarn kamen und sich zwar integrierten (auch die ungarische Sprache erlernten), sich aber kaum assimilierten.

3. kamen während bzw. nach der politischen Wende zahlreiche Deutschsprachige als Geschäftsführer auf Zeit (zwischen drei und sechs Jahren, mitunter mit Verlängerung, Unternehmer oder Angestellte ohne zeitliche Begrenzung (mitunter schon seit zehn Jahren) sowie zahlreiche Pensionisten nach Ungarn. Dazu kommen noch Partner, Kinder und sonstige Familienmitglieder, die sich zwar integrieren (insbesondere die beiden letztgenannten Gruppen), aber nicht assimilieren wollen.

Die hier erstmals veröffentlichten Ergebnisse einer Umfrage, die vom "Pester Lloyd" unter zahlreichen deutschsprachigen Vereinigungen sowie Einzelpersonen in Ungarn im Mai des Jahres 2002 durchgeführt wurde, beziehen sich hauptsächlich auf die 2. und 3. Gruppe, da sich nur in ihnen ausgeprägte neue Sprachinseln/Dialektinseln nachweisen lassen. Anzumerken ist, dass in den nächsten Jahrzehnten mit einer Assimilation dieser untersuchten Gruppen nicht zu rechnen sein dürfte, da die politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse in Ungarn dies nicht zwingend notwendig erscheinen lassen. Im Gegenteil: Mit der zunehmenden Integration des Landes in die Europäische Union wird die deutsche Sprache ihren bereits jetzt schon vorhandenen hohen Stellenwert weiter ausbauen, so dass das Ungarische im europäischen Maßstab immer mehr zur "Zweitsprache" solcher Ungarinnen und Ungarn werden dürfte, die in Europa beruflich erfolgreich sein wollen. Die Stabilität dieser neuen deutschen Sprachinseln in Ungarn und ihre rasche netzwerkartige Ausbreitung und Weiterentwicklung kommt u. a. zum Ausdruck in den deutschsprachigen Wirtschaftsclubs, den angeschlossenen Interessengemeinschaften, den landesweit organisierten Stammtischen, der Stiftung deutschsprachiger Immobilienbesitzer, den Frauenkreisen sowie den drei deutschsprachigen Kirchengemeinden. Auf ungarischer Seite ist mit einer enormen Zunahme des Erlernens der deutschen Sprache zu rechnen. So dass eine verstärkte Kontaktaufnahme von deutschsprechenden Ungarn zu den deutschen Sprachinseln schon jetzt zu verzeichnen ist.

Für die empirische Sprachinselforschung dürfte es nun interessant sein, wie die hier angesiedelten Deutschsprachigen im ungarischen Sprachumfeld mit ihren Dialekten umgehen, zumal die Herkunft ausgesprochen heterogen ist, somit also entweder ein "Dialekte-Babylon" zu vermuten wäre bzw. eine Verdrängung des persönlichen Dialektes (auch Mundart) zugunsten der Benutzung der deutschen Hochsprache. Um diesem noch unerforschtem Phänomen zunächst mit empirischen Methoden besser auf die Spur zu kommen, wurden an über 700 Deutschsprachige in ganz Ungarn Fragebogen verteilt, von denen 74 Prozent beantwortet zurück kamen. Die 48 gestellten Fragen sind zu 95 Prozent beantwortet worden.

Ergänzend zur Verbreitungsstruktur der Sprachinseln kann festgestellt werden, dass es einen souveränen Umgang mit der deutschen Sprache gibt, der sich besonders auch in der kaum eingeschränkten Benutzung der Dialekte/Mundart zeigt. Festgestellt wurde auch, dass trotz der großen Sesshaftigkeit (Eigentumserwerb) kaum Bestrebungen zur Assimilation vorhanden sind. Integrationsversuche kommen darin zum Ausdruck, dass ein großer Prozentsatz durchaus bereit ist, die ungarische Sprache zu erlernen sowie Bekanntschaften und Freundschaften zu pflegen.

Dennoch werden die Sprachbarriere, die andere Mentalität der Ungarn sowie Probleme im öffentlichen Zusammenleben als Hinderungsgründe für eine noch stärkere Integration angegeben, die daher auch eine Assimilation auf lange Sicht nicht nach sich ziehen wird. "Kontraproduktiv" wirkt dabei auch die Bereitschaft großer Gruppen von Ungarn, die deutsche Sprache zu erlernen, sowie die bevorstehende EU-Osterweiterung, in der das Ungarische nur noch als Nationalsprache existiert, während das Deutsche bereits jetzt schon von der ehemaligen ungarischen Regierung als Konferenzsprache für die EU vorgesehen wurde.

Dieser Tatsache entspricht auch – neben den genannten Clubs und Interessengemeinschaften - eine bereits vorhandene deutschsprachige Infrastruktur wie u.a. deutschsprachige Schulen, deutschsprachige Klassenzüge an Gymnasien, germanistische Lehrstühle an Hochschulen und Universitäten, Eröffnung einer deutschsprachigen Universität im November 2002, deutschsprachige Medien sowie politische Stiftungen und Kulturinstitutionen.

Von daher ist also auch ein Vergleich mit den deutschsprachigen Siedlungswellen in der Vergangenheit nicht mehr statthaft, da derzeit eine völlig neue Qualität der Ansiedlung von Deutschsprachigen in Ungarn Einzug gehalten hat, die bereits deutliche Zeichen eines künftigen gemeinsamen Hauses Europa in sich bergen.

Deshalb sollten auch Einrichtungen, die noch die alte (ungarn)deutsche Siedlungsgeschichte repräsentieren, darauf hin untersucht werden, inwieweit diese noch den veränderten Bedingungen und den neuen deutschsprachigen Ansiedelungen in Ungarn gerecht werden. (fp)