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Wo Internetnutzer Mediengeschichte mitschreiben

31. Januar 2011

Ein Archiv muss kein staubiger Raum mit unzähligen Akten sein. Es geht auch multimedial, einfach zugänglich und dazu noch veränderbar. Das beweist zumindest die Deutsche Kinemathek in Berlin.

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Junge spielt in einem Trabbi-Wrack: "Nach der Währungsunion im Juli 1990 haben viele ihre Möbel auf den Straßen entsorgt (Foto: Christer Markgraf)
Bild: Christer Markgraf

Demonstrationszüge und Kirchenforum, Marschmusik und verpoppte DDR-Hymne: So hielt Kerstin Süßke 1989/90 die Wendezeit in Ost-Berlin fest. Der Film ist einer von rund 100 Videos, die man auf der Website "wir-waren-so-frei.de" findet. Rainer Rother, der Direktor der Deutschen Kinemathek, ließ die Website anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls aufbauen.

Er hatte den Eindruck, dass in den Jahren 1989/90 Amateurfilmer Aufnahmen oder auch Fotografien hergestellt haben, die heute von hohem Interesse sind, weil in dieser Zeit die private Erfahrung und der historische Prozess unglaublich nah aneinandergerückt sind und jeder sozusagen Geschichte im Werden mitverfolgt hat.

Mauer mit Plakaten: Bald nach der Öffnung der Grenzen wurde in der DDR Veränderungen durchgesetzt. Den sichtbarsten Wandel brachte der Wahlkampf zur Volkskammerwahl im März 1990 mit unzähligen Wahlplakaten (Foto: Klaus Peter Albrecht)
Bild: Klaus Peter Albrecht

Interaktives Archiv - die Nutzer gestalten mit

Seit gut einem Jahr ist "wir-waren-so-frei.de" im Internet. Dort kann man Fotos, Filme und Videoaufnahmen zum Thema sichten. Ebenso wichtig sind die erklärenden Texte: einerseits redaktionelle Angaben, andererseits die "persönlichen" Informationen der Urheber oder eben - interaktiv - die Kommentare von Nutzern. Auf der Website findet man beispielsweise den filmischen Mauerspaziergang "Was von der Mauer übrig blieb" von Cornelia Klauß von 1990. Die Menschen konnten es damals gar nicht glauben, berichteten sie im Film: "Ungewohnt. Wenn man zwei Schritte macht, nach links, dann ist man wieder im Westen. Dann drei Schritte wieder zurück, dann ist man noch im Osten. Irgendwie komisch."

Einweihung der unbürokratisch schnell wiederhergestellten Straßenverbindung von Günthers nach Motzlar durch den Fanfarenzug der freiwilligen Feuerwehr Tann (Foto: Karl-Heinz Pongs)
ZeitdokumenteBild: Karl-Heinz Pongs

Auch viele ungewöhnliche Fotos sind online zu entdecken: so hielt Merit Schambach auf ihrem Foto "Jugend 1989/90" ein besetztes Haus in Ost-Berlin fest. Darauf zu sehen ist ein Punk, der auf einem Sessel sitzt: eine herabhängende Locke teilt sein Gesicht in der Mitte, ein flimmernder Fernseher steht im Hintergrund. Ein anderes ist "Demonstration auf dem Theaterplatz in Weimar" von Claus Bach von 1989, in dessen Mitte das Goethe- und Schillerdenkmal herausragt.

Insgesamt sind rund 7.000 Fotos auf "wir-waren-so-frei.de" zu finden. Material, das die Besucher zu 80 Prozent für nichtkommerzielle Zwecke herunterladen können und was besonders Lehrer und Ausstellungsmacher gern tun.

Raritäten der Filmgeschichte

Noch tiefer in die Geschichte taucht die Website "lost-films.eu" ein. Diese Datenbank widmet sich vor allem der frühen Filmgeschichte: alte Fotos, Filme oder Fragmente. Laut Rainer Rother, künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek, geht es darum, "dass man Material einstellt, das im eigenen Archiv ist, das man aber nicht identifiziert hat, und dann erwartet: Irgendwo auf der Welt wird schon jemand sein, der weiß, was ich da habe! Da gibt es ganz überraschende Funde und das funktioniert deswegen so gut, weil es eine Community von Fachleuten ist, die sich dort äußern."

Ein kontinuierlicher Prozess

Oliver Hanley, Projektkoordinator: lost-films.eu (Foto: lost-films.eu)
Oliver HanleyBild: lost-films.eu

Das können Fachleute sein, die in den Materialien des Archivs einen Schauspieler erkennen, ein Drehbuch finden, ein Filmplakat oder auch eine Rezension. Gleich einem Puzzle, entwickelt sich so im Idealfall allmählich ein größeres Bild und lässt das ursprüngliche Werk erkennen. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Prozess. Projektleiter Oliver Hanley erklärt die Vorteile des Archivs: "Wenn Sie weitere Dokumente beizutragen haben, können Sie die hier hochladen. Das gilt auch für die nicht identifizierten Filme. Die kommen dann in unsere Back End Datenbank, werden zuerst kurz von uns gecheckt und dann freigeschaltet."

Auch außergewöhnliche historische Momente sind auf "lost-films.eu" festgehalten, zum Beispiel in dem Dokumentarfilm "Der Film im Film" von Friedrich Porges. Dort sieht man wie Fritz Lang 1923 Regie führt bei "Die Nibelungen". Und egal ob "lost-films" oder "wir-waren-so-frei": Nutzer dieser Websites haben die Möglichkeit, die Bestände zu erweitern oder zu kommentieren und somit selbst ein Stück Mediengeschichte zu schreiben.

Autor: Bernd Sobolla

Redaktion: Conny Paul