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Deutschland ist zu eng

18. August 2005

Was denken Deutsche im Ausland über ihre Heimat und die vorgezogenen Neuwahlen? DW-WORLD hat bei deutschen Zeitungen und Online-Magazinen im Ausland nachgefragt. Diesmal: Einschätzungen aus Namibia vom Bush Telegraph.

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Was denken Deutsche in Namibia über die Wahlen?

"Deutschland war schön. Aber ich bin froh, dass ich wieder zu Hause bin. Leben möchte ich dort nicht mehr." Äußerungen dieser Art hört man häufig von Deutschen, die nach Namibia ausgewandert sind und im Urlaub Familie und Freunde in Deutschland besucht haben. Knapp 20.000 Deutschstämmige gibt es in Namibia, das bis zum Ersten Weltkrieg deutsche Kolonie war; viele sind in jüngerer Zeit ins Land gekommen - darunter ich, geborener Hamburger, gelernter Außenhandelskaufmann, quer eingestiegener Journalist, mittlerweile selbstständig.

Fehlender Freiraum

Die Gründe für die Abneigung zur ehemaligen Heimat lassen sich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner bringen: Deutschland ist zu eng. Das fällt einem in Namibia natürlich besonders auf, wo knapp zwei Millionen Menschen - also etwa die Einwohnerzahl Hamburgs - auf einer Fläche leben, die fast zweieinhalb Mal so groß ist wie das wiedervereinigte Deutschland. Aber es ist nicht nur der begrenzte Platz, sondern vor allem der fehlende Freiraum im Alltag, der einem aus namibischem Blickwinkel auffällt - und die Ohnmacht vieler Menschen, etwas an ihrer Lage ändern zu können, der Pessimismus, die Resignation.

Wüstenlandscahft in Namibia
Eine der Hauptattraktionen Namibias ist die einsame Wüstenlandschaft im Südwesten. Foto: Sven-Eric Kanzler, Bush Telegraph CC Serie Deutsche Zeitungen im Ausland, Namibia wahl05


Vorschrift ist Vorschrift - Freunde von uns in Offenburg müssen auf ihrem selbst gekauften Grundstück Hainbuche als Hecke pflanzen, obwohl sie ihnen nicht gefällt. Meine Schwägerin muss für ihren Betrieb getrennte Toiletten für Männer und Frauen einrichten, obwohl der aus zwei Personen besteht. Mein Studienfreund, mittlerweile Professor, muss für einen Antrag auf Fördergelder für eine spezielle Studie zwei Kostenvoranschläge einreichen, obwohl die Dienste landesweit nur von einem Institut geleistet werden; ihm wurde sogar dazu geraten, den zweiten Voranschlag zu "türken". Oft verzichtet man lieber auf sein Vorhaben, um den drohenden Papierkrieg zu vermeiden oder nicht gegen eventuell bestehende Vorschriften zu verstoßen.

Kopfschütteln über Regelungswut

Über die Regelungswut in Deutschland schütteln die meisten in Namibia den Kopf. Auch hier gibt es Gesetze, Verordnungen und Vorschriften, aber sie lassen einem Raum zum Entfalten. Auch hier gibt es Probleme - unterentwickelte Gebiete, Landflucht, etwa 40 (!) Prozent Arbeitslosigkeit, hohe Kriminalität - aber man kann selbst dazu beitragen, diese Probleme zu lösen oder zu mindern. Wer hier ein Unternehmen gründet, hat es sehr viel leichter als in Deutschland. Und man darf nicht vergessen: Je mehr Regeln, desto höher die Kosten, diese Regeln auch durchzusetzen; je mehr Staat, desto höher die Steuern.

Weniger Sozialstaat, mehr Spielraum - Am meisten sind wir jedoch darüber erleichtert, uns mit dem Austritt aus dem staatlichen Renten(knebel)system von einem schweren Klotz am Bein befreit zu haben. Das schafft Luft für die eigene Vorsorge: Wir können monatlich ein (erschwingliches) Haus abzahlen, anstatt die Miete zum Fenster hinauszuwerfen. Wir können Rücklagen bilden, die sich über Jahre verzinsen. Und wir können unsere Krankenversicherung auf die Kernrisiken von Rettungsdienst und Operation beschränken. Klar, wir tragen mehr Eigenverantwortung - aber haben dafür unser Leben auch stärker selbst in der Hand.

Geringes Interesse an der Wahl

Nun stehen in Deutschland Neuwahlen an. Aber warum sollten wir mitwählen? Erstens haben wir uns für ein Leben in Namibia entschieden. Und zweitens bezweifeln wir, dass eine neue Regierung das lähmende Regelungsdickicht in Deutschland drastisch zurückschneiden kann - bei der regelmäßigen Blockade zwischen Regierung und Opposition sowie zwischen Bundestag und -rat; bei dem Interessengeflecht von Parteien und Lobbies; und bei der mangelnden Reform- und Opferbereitschaft innerhalb der Gesellschaft (die sich schon in der Frage, ob man ein Wort mit f oder ph schreibt, Grabenkämpfe liefert).

Diese Ansicht scheinen wir mit den meisten unserer Landsleute in Namibia zu teilen. Die Deutsche Botschaft erhielt nach einem Bericht der "Allgemeinen Zeitung" über das Verfahren zum Eintrag ins Wählerverzeichnis gerade einmal ein Dutzend Anfragen. Ein Mitarbeiter der Botschaft schätzt die Zahl der Briefwähler in Namibia auf 250 (von 50.000 Briefwählern weltweit, laut Bundeswahlleiter Johann Hahlen). Etwa 10.000 Einwohner haben einen deutschen Pass; wie viele davon wahlberechtigt sind, weiß man nicht.

Viele deutsche Touristen

Vom geringen Wahlinteresse darf man jedoch nicht auf allgemeines Desinteresse an den Entwicklungen in Deutschland schließen. Viele informieren sich per Pay-TV (laut Anbieter "Deukom" beziehen mehr als 3000 Haushalte in Namibia die Programme ARD, ZDF, Deutsche Welle, RTL, SAT 1, Pro7 und 3Sat über Satellit), auf Nachrichtenportalen im Internet oder auf der Auslandsseite der in Windhoek erscheinenden "Allgemeinen Zeitung". Und man hofft darauf, dass sich die Wirtschaftslage in Deutschland bessert. Denn die ehemalige Kolonialmacht Deutschland ist größter Geldgeber in der Entwicklungshilfe des Landes. Zudem stellen Deutsche mehr als 50 Prozent der Touristen aus Europa und tragen damit erheblich zur Wirtschaft Namibias bei. So mancher Urlauber bleibt übrigens auch hängen und gründet hier eine neue Existenz.

Sven-Eric Kanzler
Sven-Eric Kanzler

Sven-Eric Kanzler, Bush Telegraph CC

Hinweis: Dies ist ein Gastbeitrag. Die Inhalte geben die Meinung des Gastautoren, nicht die Meinung der Redaktion von DW-WORLD wieder.