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"Deutschland verabschiedet sich von Bismarck"

4. Juli 2006

Auch die internationale Presse beschäftigt sich mit den Ergebnissen der Verhandlungen zur Gesundheitsreform in Deutschland. Viele Kommentatoren gehen die beschlossenen Eckpunkte nicht weit genug.

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"Financial Times" (London): Deutschland zieht nach

"Zum ersten Mal seit Otto von Bismarck das erste europäische Wohlfahrtssystem aus einer Sozialversicherung geschaffen hat, in die Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam einzahlen, beginnt der deutsche Staat damit, Gesundheitskosten direkt aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren. Viele der kontinentaleuropäischen Länder, die das Bismarck-Modell kopiert haben - Frankreich, Belgien und die Niederlande -, gehen davon ab. Jetzt auch das Vaterland des Eisernen Kanzlers selbst."

"Tages-Anzeiger" (Zürich): Angela Merkel kränkelt

"Herausgekommen ist eine Gesundheitsreform, die selbst krank ist. Zwar hat Merkel die Gesundheitspolitik zur Chefsache gemacht, sich tief in die Materie eingearbeitet. Aber das geht so weit, dass selbst Unionspolitiker klagen, niemand verstehe die Kanzlerin mehr, wenn sie sich mit der Gesundheitsministerin berate. Im Dickicht der Details hat Merkel offensichtlich das große Ganze aus den Augen verloren. (…) Die Interessen von Krankenkassen, Versicherten, Arbeitgebern und Arbeitnehmern bleiben auf der Strecke. Stattdessen hat die große Koalition ihre ganze Energie darin investiert, eigene Befindlichkeiten zu schonen. (...) Reformen nur zu simulieren und - wie jetzt vorgemacht - echte Lösungen auf die Zeit nach der nächsten Wahl 2009 zu vertagen, ist verantwortungslos."

"Neue Züricher Zeitung": Überlebenstrieb der Koalition

"Wem die Schuld an diesem neuesten Deal zuzuschreiben ist, kann nicht so ohne weiteres gesagt werden. Die systembedingten Sachzwänge dieser Regierungsform scheinen aber dem Überlebenstrieb der Koalition eine viel wichtigere Rolle zuzuschieben als der inhaltlichen Vernunft. Wie anders ist zu erklären, dass auch diese Reform strenggenommen nicht zu bezahlen ist (außer durch neue Schulden) und dass sie, statt die einzelnen Träger endlich einem echten Wettbewerb auszusetzen, diese zu noch mehr Bürokratie und noch mehr Unbeweglichkeit verurteilt? Es ist nicht ersichtlich, wie sich die Tugend des Sparens im deutschen Gesundheitssystem breit machen soll."

"Die Presse" (Wien): Nichts ist aus Merkels Plänen geworden

"Nichts ist geworden aus den ehrgeizigen Plänen der CDU-Politikerin, die Arbeitskosten zu entlasten. Im Gegenteil. (...) Geboten gewesen wäre ein Systemwechsel. Ein Umstieg auf ein Modell, das sich stärker als bisher aus Steuermitteln finanziert und langfristig kostendämpfend wirkt. Elf Prozent der Wirtschaftsleistung frisst das deutsche Gesundheitswesen auf. Tendenz steigend. Auf Dauer schnürt ein derart rasant wachsender Moloch dem Sozialstaat die Lebensader ab. Jeder kennt die Diagnose, doch keiner wagt die Operation." (kas)