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Deutschlands Mitte rückt nach rechts

Volker Wagener4. Januar 2016

Mehr als 600 Angriffe auf Unterkünfte von Flüchtlingen, Konjunktur für AfD und Pegida, Hassreden im Netz - Deutschland ist nicht nur das Land der Willkommenskultur. Es wächst auch eine neue Fremdenfeindlichkeit.

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Dresden: Pegida Aufmarsch (dpa/picture alliance)
Bild: picture-alliance/dpa/Arno Burgi

28. August, 2.07 Uhr, Hauptstraße 70 in dem kleinen Örtchen Salzhemmendorf bei Hameln. Ein dreigeschossiges Haus brennt. Seit Kurzem lebt dort eine Familie aus Simbabwe. Unter dem Bett des elfjährigen Sohnes Alvin findet die Feuerwehr wenig später das Corpus Delicti: ein Molotowcocktail. Er wurde ins Erdgeschoss geschleudert. Mörderische Gewaltexzesse wie diese gibt es hundertfach in Deutschland. Zum Vergleich: 2011 wurden 18 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gezählt, vier Jahre später sind es mehr als 600.

Aber Deutschland zeigt 2015 auch ein anderes Gesicht. Tausende freiwillige Helfer vom Schüler bis zur Rentnerin versorgen ankommende Syrer, Afghanen und Iraker. Es gibt Teddybären und Schokolade für die Kinder, Hilfe bei Behördengängen für die Eltern. Die tätige Hilfe heißt fortan Willkommenskultur. Im Ausland ist man erstaunt über die "crazy germans", die verrückten Deutschen, und auch wir sind ein bisschen gerührt über unser großes Herz. Deutschland und die Flüchtlinge, das ist das alles beherrschende Thema. Selbst die nahezu unangreifbare Angela Merkel kommt fast ins Straucheln darüber, dass sie den Schutzsuchenden die Grenzen geöffnet hat.

Merkel polarisiert

Inzwischen ist es nicht mehr so sehr die Helferethik, die das öffentliche Klima in der Flüchtlingspolitik bestimmt. Am 8. Dezember wurde Flüchtling Nummer 1.000.000 registriert. Doch schon lange vorher stieß Merkels Politik der offenen Tür auf Widerstand: in ihrer Partei, im eigenen Kabinett, in den Kommunen. Und auch auf der Straße. Die deutsche Gesellschaft zeigt sich tief gespalten.

Griechenland, Idomeni: Flüchtlingslager, Plakat Angela Merkel (Foto: DW/Oscar Lopez)
Immer Richtung Norden: Noch in Griechenland, aber das Ziel heißt DeutschlandBild: DW/O. Lopez

Die historisch begründete Asylethik, entstanden aus den Lehren der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkriegs, stößt auf offene Ablehnung bei denen, die Staat und Gesellschaft überfordert sehen. Ausländerfeindlichkeit wächst, bescheinigen Demoskopen. Von allen Facetten rechtsextremen Denkens ist sie das hervorstechendste Phänomen. Die Flüchtlings- und Asylpolitik der Bundesregierung ist die Projektionsfläche der neuen Phobie vor Ausländern. Bedient wird sie vor allem durch die rassistische Bewegung Pegida, die populistische Partei AfD und die rechtsextreme NPD.

Pegida, das sächsische Phänomen

Hervorstechendes Merkmal: Sie sehen sich selbst als Opfer und wollen vor den Flüchtlingen, den Ausländern, "geschützt" werden - das gilt vor allem für Pegida-Anhänger. "Ein regionales Phänomen", betont David Begrich, "das im Wesentlichen auf Sachsen beschränkt ist". Als Resonanzboden fungiert der ganze deutsche Osten. Begrich, Theologe und Sozialwissenschaftler aus Magdeburg, ist Rechtsextremismusexperte. Für ihn steht fest, dass im Osten Politikkonzepte beliebt sind, die eine Rückkehr zu einer homogenen Gesellschaft versprechen.

Pegida wird in den meisten Bundesländern nicht vom Verfassungsschutz beobachtet. Über Facebook bekommt die Organisation fast doppelt so viel "Gefällt mir"-Klicks wie alle im Bundestag vertretenen Parteien zusammen. Ihre Anhänger sind männlich, stehen in der Mitte des Lebens und haben überwiegend einen festen Arbeitsplatz. Auf ihren montäglichen Demonstrationszügen beschwören sie regelmäßig die "Macht des Volkes" und die christliche Kultur des Abendlandes. Dabei ist Europa, so David Begrich, nirgendwo so wenig religiös wie in Ostdeutschland.

Buhmann repräsentative Demokratie

Interessanter Befund: Pegida-Sympathisanten sind gebildet. Viele haben studiert. Sie halten die Demokratie grundsätzlich für gut, so Lars Geiges vom Göttinger Institut für Demokratieforschung. Das System der repräsentativen Demokratie hingegen empfinden sie als Defekt. Sie verdächtigen Parteien und Politiker, mit Wirtschaft und Medien verfilzt zu sein. Sie fordern mehr direkte Demokratie und regelmäßige Volksbefragungen wie etwa in der Schweiz.

Deutschland: Brand in geplanter Asylunterkunft in Baden-Württemberg (Foto:picture-alliance/AP)
Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland nehmen zu, hier brennt es in Baden-WürttembergBild: picture-alliance/AP Photo/SMDG/Friebe

Neu ist, dass sie ihren Unmut laut äußern. Schon älter sind die Ursachen ihrer Verunsicherung. Es sind die sozialen Verwerfungen des Neoliberalismus. Der Sozialabbau durch den sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder ab 2003 bedeutete einen Verlust gewohnter Leistungen. Millionen Arbeitslose bekommen seitdem weniger Unterstützung oder finden sich in Billigjobs wieder. Das Protestpotential kommt eindeutig aus dem Bauch des schlechter oder schlecht bezahlten Mitarbeiters im Dienstleistungsbereich. Der studierte Paketzusteller gilt seit Langem als Prototyp des sozial Frustrierten. Diese tiefe Kränkung verschafft sich nun über das Feindbild Flüchtlinge Luft.

Als besonderes ostdeutsches Phänomen kommt hinzu, dass die Politik wegen der Flüchtlingszuwanderung nun Veränderungsbereitschaft und Flexibilität von den Bürgern einfordert. "Sie vergisst", erinnert David Begrich, "dass sich die Menschen im Osten seit 25 Jahren veränderungsbereiter gezeigt haben als manche Westdeutsche." Sie seien den Wandel leid.

Die AfD, Sammelbecken der Wutbürger

Als eurokritische Bewegung erst vor wenigen Jahren entstanden, war die Alternative für Deutschland (AfD) fast schon am Ende - bis sie sich spaltete. Nun erlebt sie seit Monaten einen demoskopischen Höhenflug. Von Eurokritik ist kaum noch die Rede. Die neue Partei geriert sich als Antiflüchtlingspartei. Wären heute Wahlen, die AfD zöge mit einem zweistelligen Ergebnis ins Parlament ein. Damit wäre eine Partei im Bundestag, so der renommierte Rechtsextremismus-Forscher Hajo Funke, die für einen völkisch-nationalistischen Extremismus steht. Die AfD befinde sich eindeutig in einem Prozess rechter Radikalisierung.

AfD-Bundesparteitag in Hannover, Frauke Petry (Foto: picture alliance/dpa)
Die AfD und ihre neue Vorsitzende Frauke Petry würden derzeit rund zehn Prozent an der Wahlurne bekommenBild: picture-alliance/dpa/S. Pförtner

Die AfD sieht sich als natürlicher Partner der Sachsen-basierten Pegida. Eine Millionen Flüchtlinge im Land wirkten, so der "Spiegel", "wie ein Katalysator für die neue rechte Bewegung". Sie nimmt vor allem konservative Bürger auf, die in den vergangenen Jahren politisch heimatlos geworden sind. Insbesondere die CDU verliert bei ihrem Kurs in die Mitte Wähler des rechten Flügels.

Die NPD, der Sonderfall

Immer mit dabei, wenn es um fremdenfeindliche Hetze geht, ist die NPD. Die Nationaldemokratische Partei Deutschland befand sich zuletzt im steten Abschwung. Das Flüchtlingsthema beschert der NPD nun eine leichte Schubumkehr. Ohne AfD und Pegida könnte die Partei mehr Profit aus der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ziehen, urteilen Sicherheitskreise. Sie spielt parlamentarisch derzeit keine Rolle, doch schon im Frühjahr, wenn das Verfassungsgericht erneut einen Verbotsantrag gegen die Partei prüft, könnte sie sich publizistisch wieder in Erinnerung rufen. Genau dann, wenn wieder mit steigenden Flüchtlingszahlen gerechnet wird.

Die Mitte radikalisiert sich

Weniger als 25.000 Menschen werden laut Statistik dem rechtsextremen Spektrum zugerechnet. Gerade mal 2500 sind organisiert. Offensichtlich gibt es keinen deutschlandweiten Masterplan bei den regelmäßigen Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte, denn mehr als zwei Drittel aller Täter entpuppen sich als ortsansässige, meist jüngere Männer, die noch nie zuvor polizeilich auffällig waren. Ein Beleg dafür, dass sich ein Teil der bislang stillen Mitte radikalisiert hat. Analysten sprechen schon von der "enthemmten Republik".

Dazu gehört auch, dass als Reaktion auf fremdenfeindliche Aufmärsche mehr Menschen an den Gegendemonstrationen teilnehmen. Rechtsextremismus-Experte Hajo Funke ist davon überzeugt, dass sich das ausländerfeindliche Potential in Deutschland wieder reduzieren wird, wenn es der Politik gelingen sollte, die Asylpolitik klar zu gestalten und die Flüchtlinge unterzubringen. Angela Merkel will das schaffen.

Dennoch, das Jahr 2015 lässt nur einen Befund zu: Die neuen Rechtsextremen sind nicht das Volk, aber sie sind ein Teil davon. Und sie werden mehr.