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Die Avantgarde ist weiblich

15. November 2011

Einen spannenden Blick auf eine der wichtigsten Epochen der europäischen Kunstgeschichte wirft die Ausstellung "Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde" in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.

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Die andere Seite des Mondes Claude Cahun, Selfportrait (reflected in mirror), ca. 1928, Fotografie, 18 x 24 cm, Jersey Heritage Collections, © Jersey Heritage Trust Foto: © Jersey Heritage Trust © Kunstsammlung NRW
Claude Cahun, SelbstportraitBild: Jersey Heritage Trust

Sie hieß Claude Cahun und war eine der schillerndsten Künstlerinnen ihrer Zeit. Als Schriftstellerin und Philosophin ging sie in den Pariser Salons der 1920er Jahre ein und aus. Dass sie auch fotografierte, schien zunächst nebensächlich. Heute zählen ihre Selbstportraits, die dabei entstanden, zu den wichtigsten und radikalsten Darstellungen weiblicher Identität des frühen Surrealismus: von einer wilden Haarpracht bis hin zum kahl geschorenen Kopf reichen die Fotografien, märchenhafte Kostüme wechseln ab mit knabenhaften Darstellungen, die offen lassen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Wer war diese Claude Cahun? 1894 in Nantes als Tochter wohlsituierter jüdischer Geschäftsleute geboren, lernte sie früh die Welt der Literatur und des Theaters kennen, leitete bald einen eigenen Künstlersalon in Paris. Hier traf sie auf Germaine Dulac. Die zählte schon in den 1920er Jahren zu den herausragendsten surrealistischen Künstlerinnen. Als Regisseurin produzierte sie 1928 den ersten surrealistischen Film: "La coquille et le clergyman". Dazu kam Dora Maar. Als Malerin und Fotografin – und spätere Partnerin von Pablo Picasso – machte sie sich mit sozialkritischen Fotografien von Straßenkindern und Obdachlosen einen Namen.

Internationale Netzwerke

Sophie Taeuber-Arp, Quatre espaces à croix bleue brisée (Vier Räume mit gebrochenem blauen Kreuz), 1932, Gouache und Bleistift auf Papier, 36,9 x 27,6 cm, Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V., Rolandswerth, ehemals Sammlung Johannes Wasmuth, © VG Bild-Kunst, Bonn 2011 Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2011 © Kunstsammlung NRW
Sophie Taeuber-Arp, Quatre espaces à croix bleue briséeBild: VG Bild-Kunst, Bonn 2011

Die künstlerischen Verbindungen reichten bald weit über Paris hinaus. Reisen wurden populär. Man pflegte Kontakte, tauschte sich aus. Quer durch Europa - von Berlin, Paris und Zürich bis nach Amsterdam, Warschau und Moskau entstanden künstlerische Netzwerke.

Aus Deutschland kam die Graphikerin und Collagekünstlerin Hannah Höch, aus der Schweiz die Malerin und Bildhauerein Sophie Taeuber-Arp. Sie bauten auch Kontakte nach Osteuropa auf: die Designerin Sonia Delaunay, deren luxuriöse Stoffe später weltberühmt wurden, und die polnische Bildhauerin Katarzyna Kobro waren Teil des europäischen Netzwerks, das seinen Mittelpunkt in Paris hatte.

In der Seine-Metropole trafen die drei wichtigsten Kunstströmungen der Zeit aufeinander: zum Surrealismus der Französinnen, der das Unbewusste zum zentralen Thema machte, kam als äußerst radikale Kunstform der Dadaismus. Scheinbar Zufälliges und Unsinniges prägten diese Kunstrichtung. Zur gleichen Zeit arbeiteten Künstlerinnen in Osteuropa an einer ebenfalls neuen Ausdrucksform, dem Konstruktivismus, der mit geometrischen Figuren einen neuen, strengen Stil schuf.

Kunst im Reiseformat

Hannah Höch, Von oben, 1926-27, Collage und Fotomontage auf Papier und Karton, 30,5 x 22,2 cm, Des Moines Art Center’s Louise Noun Collection of Art by Women through Bequest, © VG Bild-Kunst, Bonn 2011 Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2011 © Kunstsammlung NRW
Hannah Höch, FotomontageBild: VG Bild-Kunst, Bonn 2011

Trotz der Anerkennung, die die Künstlerinnen in ihren Zirkeln fanden, hatten sie es zunächst nicht leicht, ihre Kunst bekannt zu machen. Das hatte ganz praktische Gründe.

Susanne Meyer-Büser hat die Exponate, die jetzt in Düsseldorf gezeigt werden, zusammen getragen. Sie hat eine ganz praktische Erklärung dafür, warum diese Stücke bei Museumsdirektoren auf wenig Interesse stießen. Es war das aktuelle, kleine Format der meisten Werke, das sie für die Ausstellung in prunkvollen Bauten als wenig repräsentativ erscheinen ließen.

Auch in der Düsseldorfer Ausstellung sucht man großformatige Werke vergeblich. Kleine Bilder, Portraits, Marionetten, kunstvoll gestaltete Kleidungsstücke werden in Kabinetten präsentiert, die intim wirken. An keiner Stelle geht es laut zu, nichts wirkt schrill oder aufdringlich. Gedämpfte Farben an den Wänden, offene Blickachsen lassen Verbindungen zwischen den Künstlerinnen ahnen. Motive wie Spiegel, Hände, Muscheln und Masken tauchen immer wieder auf.

"Die angewandte Kunst liegt bei den Künstlerinnen, die hier ausgestellt sind, relativ nahe", erklärt die Kuratorin und sieht einen der Gründe in der damaligen künstlerischen Ausbildung von Frauen. Frauen durften bis 1919 – zumindest in Deutschland – nicht an den normalen Akademien studieren. Sie besuchten Kunstgewerbeschulen, was dazu führte, dass sie ein breites Spektrum an Medien nutzen, um ihrer Kunst Ausdruck zu verleihen. In der Düsseldorfer Ausstellung weden Skulpturen gezeigt, Grafiken, Stickerei, Weberei und Marionetten, aber es gibt auch Fotografien und den Film "La Coquille" von Germaine Dulac zu sehen.

Avantgardistinnen im Museum

Dr. Marion Ackermann, Künstlerische Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Foto: © Kunstsammlung NRW
Marion Ackermann, Künstlerische Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-WestfalenBild: Sebastian Drüen

Die Düsseldorfer Ausstellung "Die andere Seite des Mondes" präsentiert mehr als 230 Exponate aus einer er wichtigsten Epochen der europäischen Kunstgeschichte. Aber es war kein leichtes Unterfangen, diese Werke aufzuspüren. So selbstverständlich sich die Künstlerinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Kunstkreisen bewegten. Nach dem 2. Weltkrieg waren ihre Werke wieder in der Versenkung verschwunden und wurden nur mühsam bis in die 70er Jahre wiederentdeckt. Die Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Marion Ackermann, wundert das nicht. "Männer bestimmten lange die Kunstgeschichte. Dafür haben nicht zuletzt Museumsleiter mit ihrer Ankaufpolitik gesorgt". Aber sie hat die Hoffnung, dass sich das Verhältnis in öffentlichen Sammlungen weiter angleicht. Ihr persönliches Ziel ist es, auch weiter nach bisher wenig bekannten Künstlerinnen Ausschau zu halten, um vielleicht den Blick auf die Kunstgeschichte hier und da zu korrigieren.

Autorin: Gudrun Stegen
Redaktion: Cornelia Rabitz