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Die beklemmende Aktualität des NSU

Marcel Fürstenau, Berlin11. November 2015

Vier Jahre nach dem Auffliegen der rechtsextremistischen Terrorgruppe setzt der Bundestag erneut einen Untersuchungsausschuss ein. Und im Münchener Strafprozess gegen Beate Zschäpe überschlagen sich die Ereignisse.

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Die letzte öffentliche Sitzung des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Mai 2013
Die letzte öffentliche Sitzung des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Mai 2013Bild: picture-alliance/dpa

Es wäre ein purer Zufall gewesen, aber er hätte schon eine unbeabsichtigte Symbolik gehabt. Am Ende ist es aber anders gekommen, weil die für Mittwoch angekündigte Aussage der Hauptangeklagten im NSU-Prozess verschoben wurde. Sonst hätte Beate Zschäpe just an jenem Tag ihr zweieinhalb Jahre dauerndes Schweigen gebrochen, an dem der Deutsche Bundestag den zweiten Untersuchungsausschuss zum Nationalsozialistischen Untergrund einsetzte. Aber auch so sind die beiden Ereignisse symptomatisch für die politische Aufarbeitung des NSU-Komplexes einerseits und die strafrechtliche anderseits.

Justiz und Parlament bemühen sich mehr oder weniger redlich um Aufklärung. Wie schwierig die sich gestaltet, lässt sich schon daran ablesen, dass kein Ende in Sicht ist. Im Gegenteil: Der Bundestag hat viele neue Fragen etwa zur Rolle des Verfassungsschutzes, die sich seit dem Ende des ersten NSU-Untersuchungsausschusses vor gut zwei Jahren ergeben haben. Und der im Mai 2013 begonnene Strafprozess vor dem Oberlandesgericht in München erlebt gerade seine kritischste Phase. Am Dienstag stellte die Verteidigung des Mitangeklagten Ralf Wohlleben einen Befangenheitsantrag gegen den Strafsenat unter seinem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl. Der sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, den Verfahrensbeteiligten wichtige Informationen über Zschäpes plötzliche Aussagebereitschaft vorenthalten zu haben.

Binninger: War der NSU wirklich nur ein Trio?

In dieser Gemenge- und Stimmungslage wird der jetzt eingesetzte NSU-Untersuchungsausschuss Ende November seine Arbeit aufnehmen. Der designierte Vorsitzende des Gremiums, Christdemokrat Clemens Binninger, sprach von einem klaren politischen Signal: "Gerade in diesen Tagen, in denen wir wieder fremdenfeindliche Gewalt erleben müssen, wo Rechtsextremismus Zulauf bekommt." Inhaltlich begründeten Binninger und Abgeordnete aller anderen Fraktionen ihren einmütig gefassten Beschluss mit den vielen offenen Fragen. Kann es sein, dass der NSU nur ein Trio war? Wusste wirklich kein V-Mann des Verfassungsschutzes, wo sich die untergetauchten mutmaßlichen Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos von 1998 bis 2011 aufhielten?

Der designierte Vorsitzende des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses, Clemens Binninger (Mitte), im Sommer 2012 vor Journalisten
Bilder wie dieses aus dem Sommer 2012 wird es bald wieder geben - in der Mitte Clemens BinningerBild: dapd

Petra Pau von den Linken, zugleich Vizepräsidentin des Bundestages, verwies auf über 40 parlamentarische Anfragen ihrer Fraktion zum NSU-Komplex seit Anfang vergangenen Jahres. Mit den Antworten war sie selten zufrieden. Es habe "zu viele Behinderungen" aus Behörden und Ministerien gegeben. Ähnliche Erfahrungen haben auch die anderen Abgeordneten gemacht. "Ihr seid ja kein Untersuchungsausschuss", hat sich Paus Kollege Binninger im Innenausschuss anhören müssen. Damit wird sich demnächst niemand rausreden können, der als Zeuge in den NSU-Untersuchungsausschuss geladen wird.

Zschäpe hat jetzt fünf Verteidiger…

Gut möglich, dass dann auch Mitarbeiter des Verfassungsschutzes erscheinen müssen, die inzwischen im NSU-Prozess aufgetreten sind. Zur Aufklärung haben sie kaum beigetragen, was nicht nur am fehlenden Willen liegen muss. In der Regel haben sie bestenfalls eine eingeschränkte Aussagegenehmigung und ein Großteil der Akten bleibt auf Geheiß der Innenministerien von Bund und Ländern unter Verschluss. Unter diesen Voraussetzungen wird die politische wie die strafrechtliche Aufklärung der NSU-Verbrechen und ihrer Begleitumstände weiterhin schwerfallen.

Die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, Beate Zschäpe (l.), und einer ihrer Pflichtverteiger, Mathias Grasel
Zschäpe (l.) und ihr Pflichtverteidiger Grasel am Tag vor der Einsetzung des NSU-UntersuchungsausschussesBild: picture-alliance/dpa/P. Kneffel

Für eine Wende könnte vielleicht jene Person sorgen, die bislang zur ihrer Rolle innerhalb des NSU geschwiegen hat, aber nun doch aussagen will: Beate Zschäpe. Ihr erst seit Juli tätiger vierter Pflichtverteidiger Mathias Grasel wird ihre ursprünglich für diesen Mittwoch geplante Aussage vielleicht in der kommenden Woche verlesen. Voraussetzung dafür wäre, dass der gegen Richter Götzl und seine Kollegen gestellte Befangenheitsantrag abgelehnt wird. Und dann ist auch noch unklar, wie viele Verteidiger sich dann um die Belange der Hauptangeklagten kümmern würden. Neu hinzu käme auf jeden Fall Grasels Kanzleipartner Hermann Borchert.

…aber vielleicht schon bald nur noch zwei

Derweil hoffen Zschäpes seit Prozessbeginn tätigen Pflichtverteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm auf Entlassung aus dem NSU-Prozess. Über ihren zweiten Entpflichtungsantrag muss das Gericht auch noch entscheiden. Ihr erster im Juli dieses Jahres war erfolglos. Das Gerangel zwischen den zerstrittenen Zschäpe-Anwälten ist vor allem für die Angehörigen der NSU-Opfer eine weitere Geduldsprobe. Zwar wissen sie seit vier Jahren, wer die mutmaßlichen Mörder sind. Aber nach wie vor plagt sie die Frage, warum gerade ihre Väter und Söhne ermordet wurden? Und ob das letzte Opfer, die 2007 in Heilbronn erschossene Polizistin Michèle Kiesewetter, wirklich ein Zufallsopfer war, ist ebenfalls fraglich.

Zschäpes Pflichtverteidiger Anja Sturm, Wolfgang Stahl und Wolfgang Heer (v.l..n.r.)
Zschäpes Pflichtverteidigern Sturm, Stahl und Heer (v.l.n.r.) ist das Lachen schon lange vergangenBild: picture-alliance/dpa/P. Kneffel

In der Debatte anlässlich der Einsetzung des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses waren viele mahnende Stimmen zu hören. Irene Mihalic von den Grünen befürchtet angesichts zahlreicher Anschläge auf Flüchtlingsheime die Bildung neuer rechtsextremistischer Terrornetzwerke nach dem schrecklichen Vorbild des NSU. Und die Sozialdemokratin Eva Högl glaubt nicht, dass in den deutschen Sicherheitsbehörden seit der Selbstenttarnung des NSU vor vier Jahren "grundlegend anders gearbeitet wird". Högl gehörte wie Binninger und Pau auch schon dem ersten NSU-Untersuchungsausschuss an.

Seit Anfang November gibt es eine zentrale V-Leute-Datei

Der im Sommer 2013 verfasste Abschlussbericht beinhaltet 47 Empfehlungen an Politik und Gesellschaft. Als besonders dringlich wurde damals eine durchgreifende Reform des Verfassungsschutzes angesehen. Es hat bis zum 1. November dieses Jahres gedauert, bis die angemahnte zentrale Datei zu sogenannten Vertrauenspersonen des Inlandsgeheimdienstes in Betrieb genommen wurde. Welche Rolle diese V-Leute aus dem rechten Milieu beim NSU gespielt haben, ist nach wie vor ungeklärt.