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Die Benes-Dekrete im europäischen Kontext

15. März 2002

- Mehrere Gutachten sollen die Verträglichkeit der Präsidentenerlasse mit europäischen Rechtsnormen prüfen

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Prag, 14.3.2002, PRAGER ZEITUNG, deutsch, Gerd Lemke

Mehrere Rechtsgutachten werden die Benes-Dekrete bewerten. Der Außenpolitische Ausschuss des Europa-Parlaments hat ein solches in Auftrag gegeben, ebenfalls das tschechische Außenministerium. In diesen Gutachten soll festgestellt werden, ob die Dekrete des Präsidenten Edvard Benes, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Rechtsordnung der Tschechoslowakei wieder herstellten und auf deren Grundlage Sudetendeutsche und Ungarn enteignet worden sind, heute noch in der aktuellen Rechtssprechung Tschechiens Anwendung finden. Die Europäische Kommission bereitet eine Stellungnahme zu den Dekreten vor. Das tschechische Justizministerium erstellt eine Vergleichsstudie mit ähnlichen Dekreten im Ausland. Schließlich hat auch der Deutsch-tschechische Zukunftsfonds eine Analyse der Institute für Zeitgeschichte in München und Prag als Grundlage seiner weiteren Arbeit in Auftrag gegeben.

Damit hat das Thema, dass bis Ende vergangenen Jahres nur in Vertriebenenverbänden wie der Sudetendeutschen Landsmannschaft oder unter einschlägig informierten Kreisen diskutiert wurde, wieder die Ebene der Europäischen Union erreicht. Schon im April 1999 hatte das Europa-Parlament den Beitrittskandidaten Tschechien aufgefordert, über die Benes-Dekrete nachzudenken. In Prag wurde das geflissentlich überhört. Die Formel lautete "erloschen", damit war auch die deutsche Bundesregierung zufrieden. Statt mit politischer Weitsicht über mögliche Formeln nachzudenken, mit denen die Dekrete hätten tatsächlich ad acta gelegt werden können, holen die tschechischen Politiker diese wieder aus der Schublade hervor und rufen: "Die Dekrete sind unantastbar!". Das erzeugt Gegenreaktionen.

Im ungarischen Esztergom forderten Anfang der Woche der ungarische Premierminister Viktor Orban, der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Erwin Teufel und der Staatssekretär von Bayern, Erwin Huber, anlässlich des kleinen Donaugipfels eine Diskussion über die Dekrete im europäischen Kontext.

Schüssel war bereits am Wochenende auf der Versammlung der Sudetendeutschen Österreichs aufgetreten und hatte seine Forderung wiederholt, das Problem der Dekrete solle noch vor EU-Beitritt gelöst werden. Eine scharfe Rede hielt Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer von der rechtslastigen FPÖ.

Die österreichische Bevölkerung ist jedoch gegenüber dem Nachbarn weniger streng eingestellt, fand die Gesellschaft für europäische Politik per Meinungsumfrage heraus. Nur 29 Prozent der Bevölkerung seien dafür, einen EU-Beitritt Tschechiens mit einer Entschädigung für die Sudetendeutschen zu verknüpfen. Weniger als ein Drittel der Bevölkerung würde einen Beitritt mit einer Abschaffung der Benes-Dekrete verbunden sehen wollen. Allerdings sind drei Viertel überzeugt, dass politische Kreise mit der Diskussion über die Dekrete Stimmen gewinnen wollen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird sich mit den Benes-Dekreten befassen müssen. Die Erben des 1945 in Kamenice pod Lipou enteigneten Richard Geymüller haben sich an Straßburg gewandt und auf Restitution geklagt. Geymüller war Schweizer, wurde aber rechtlich wie ein Sudetendeutscher behandelt. 1992 hatte das Kreisgericht in Ceske Budejovice diese Klage abgelehnt. (ykk)