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Die Brasilianer und ihre Verniedlichungen

Soraia Vilela 26. Juni 2006

Brasilianer können nicht anders: Alles wird zu "-inhos" und "-inhas". Nicht nur Namen von Fußballern werden verniedlicht, sondern schlichtweg alles. Warum ist das so? Ein Streitfall.

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Sie sehen: Ricardo Izecson dos SantosBild: AP

Verkleinerungen und Spitznamen sind fest verankert in der brasilianischen Kultur. Man trinkt einen cafezinho, wartet einen momentinho und geht in die Kneipe gleich um die Ecke, pertinho. Während Soziologen den Ursprung dieser Tradition suchen, schließt die ganze Welt die Nase, um die Aussprache der ganzen "-inhos" der Seleção auf die Reihe zu kriegen.

Kein Nachname

Im Gegensatz zu den meisten anderen Mannschaften werden die brasilianischen Spieler entweder mit Vornamen oder meistens mit Spitznamen genannt. Kaká (Ricardo Izecson dos Santos), Cafu (Marcos Evangelista de Moraes), Fred (Frederico Chaves Guedes) und der Tormann Dida (Nelson Jesus da Silva) sind einige Beispiele.

Wenn man zurück in die Geschichte des brasilianischen Fußballs geht, findet man fast keinen Spieler, dessen Nachnamen die Fans kennen. Pelé heißt eigentlich Edson Arantes do Nascimento, Dunga wurde als Carlos Caetano Bledorn Verri geboren, Zico als Artur Antunes Coimbra. Die Lust an Spitznamen ist in vielen Sportarten verbreitet: Der bekannte Tennisspieler Gustavo Kürten aus Südbrasilien wird Guga genannt. Der in den 1980er Jahren berühmte Boxer Maguila wurde als Adilson Rodrigues registriert und der etwa 1,90 m große Bernardinho, Trainer der brasilianischen Volleyballmannschaft und Idol der 1980er Jahre, hat eine Geburtsurkunde als Bernardo Rocha de Rezende.

Noch so ein Fall: Lula

Luis Inacio Lula da Silva
Präsident Luiz Inácio Lula da SilvaBild: dpa - Bildfunk

Präsidenten, Politiker, Popsänger oder Schauspieler werden nicht nur mit Spitznamen genannt, sondern bekommen nicht selten ihre Namen standesamtlich geändert. Der heutige Präsident zum Beispiel, Luiz Inácio Lula da Silva, wurde als Luiz Inácio da Silva geboren. Lula ist der Spitzname aus seinen Zeiten als Gewerkschaftler und wurde irgendwann in seinen offiziellen Namen integriert. Der Fall bildet keine Ausnahme und ist eher die Regel. Der Präsident João Goulart, der die Macht an die Militärs mit dem Putsch im Jahr 1964 verlor, ist im ganzen Land nur als "Jango" bekannt.

Die Buchstabenpräsidenten

José Sarney, der erste Präsident nach der Militärdikatatur in den 1980er Jahren, hieß natürlich eigentlich völlig andes hieß. Sarney ist der Vorname des Vaters des ehemaligen Präsidenten. Der kleine José Ribamar de Araújo wurde als Kind immer José do Sarney (José, der Sohn des Sarney) genannt. Und so verwandelte sich der Vorname des Vaters in den Nachnamen einer ganzen Politikerfamilie aus dem Norden des Landes: die Sarneys.

Ein anderes Beispiel sind die "Buchstabenpräsidenten": Fernando Henrique Cardoso ist nur im Ausland als Cardoso bekannt geworden. In Brasilien heißt er immer nur FHC. Dasselbe galt für den verstorbenen Juscelino Kubitschek, den man in ganz Brasilien lediglich als JK in Erinnerung hat.

Erbe aus der Sklavenzeit

Die Ursprünge dieser Vorliebe für Vor- und Spitznamen wird in Brasilien selten reflektiert. Meist erst nach Kontakt mit Ausländern, wenn Brasilianer mit Erstauenn feststellen, dass diese Herr oder Frau Nachname genannt werden.

Eine der Theorien ist, dass die Anwendung der Vornamen ihren Ursprung in der erst im Jahr 1888 abgeschafften Sklaverei hat. Der in Brasilien lebende britische Journalist, Autor und Fußballexperten Alex Bellos glaubt, die Praxis sei ein Relikt aus der Sklavenzeit, als der Kosename dazu diente, den Sklaven als solchen zu kennzeichnen.

Andere Experten gehen sogar noch ein paar Schritte mehr in die brasilianische Geschichte zurück. Sie meinen, dass die zum Christentum zwangsbekehrten Juden und Mauren, die ab dem 16. Jahrhundert aus Portugal auswanderten und in Brasilien ankamen, nicht als konvertierte Christen erkennbar sein wollten – was meistens mit dem Erwähnen des Nachnamens zum Vorschein gekommen wäre. Deshalb die Gewohnheit, sich nur mit dem Vornamen vorzustellen.

Phänomen der "Neuen Welt"

Als typisches Phänomen der so genannten "Neuen Welt" ist das Vorziehen der Vornamen sogar von den deutschen Kulturphilosophen Theodor Adorno und Max Horkheimer in ihrem berühmten Buch "Dialektik der Aufklärung" besprochen worden. Im amerikanischen Exil sahen die beiden Theoretiker eine Stilisierung der "archaischen Vornamen zu Reklamemarken":

"Veraltet klingt dafür der bürgerliche, der Familienname, der anstatt Warenzeichen zu sein, den Träger durch Beziehung auf eigene Vorgeschichte individualisierte. Er erweckt in Amerikanern eine seltsame Befangenheit. Um die unbequeme Distanz zwischen besonderen Menschen zu vertuschen, nennen sie sich Bob und Harry, als fungible Mitglieder von Teams. Solcher Komment bringt die Beziehungen der Menschen auf die Brüderlichkeit des Sportpublikums hinab, die vor der richtigen schützt", schrieben sie im Kapitel "Kulturindustrie: Aufklärung als Massenbetrug".

Ob die in Europa traditionelle Verwendung der Nachnamen die "richtige Brüderlichkeit" unterstützt und den Umgang mit der "unbequemen Distanz" zwischen den Menschen vereinfacht, ist allerdings fraglich.