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"Die Bulgaren sind von politischen Parteien tief enttäuscht"

27. April 2006

In Wählerumfragen nennen viele Bulgaren als bevorzugte politische Kraft ein sehr junges Bündnis – keine etablierte Partei. Im Interview mit DW-RADIO analysiert Soziologin Mira Janova diese Entwicklung.

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Bild: DW

Mira Janova ist Direktorin der bulgarischen Meinungsforschungsagentur MBMD.DW-RADIO/Bulgarisch: Laut einer aktuellen Meinungsumfrage würde die Mehrheit der Bevölkerung in Bulgarien, nämlich 22 Prozent, bei Wahlen für die neue politische Vereinigung "GERB" ("Bürger für die europäische Entwicklung Bulgariens") unter Vorsitz des Bürgermeisters von Sofia stimmen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Mira Janova: Die Bevorzugung einer Partei hängt nicht zuletzt von den Führungspersönlichkeiten ab. Offensichtlich sind die Bulgaren von den politischen Parteien und deren Politik in den letzen 15 Jahren tief enttäuscht. Bekanntlich wird die Popularität einer Partei maßgeblich von den Führungspersönlichkeiten bestimmt, die für sie arbeiten, die ihre Linie und ihr Ideen ausarbeiten. Deshalb dürfen zwischen der Partei und der Führungspersönlichkeit keine Widersprüche, Unterschiede bestehen, es muss ein Konsens herrschen, da die Vorstellung von der Regierungsarbeit und die Wertvorstellungen von einer konkreten Person verkörpert werden.

In diesem Fall hat jedoch eine Bewegung, die noch nicht als Partei gegründet ist, die etablierten Parteien überholt. Bedeutet dies nicht, dass diese Parteien eine Identitätskrise durchmachen?

Meiner Meinung nach geht es nicht nur um eine Identitätskrise, sondern auch darum, dass in den letzen 15 Jahren die politischen Parteien nicht ausreichend glaubwürdige Beweise dafür liefern konnten, dass sie für die Wahrung der Wählerinteressen gearbeitet haben. Es geht vor allem um eine Krise der politischen Vertretung insgesamt. Da die Parteien nur ungenügend die Interessen der Wähler vertreten, werden sie von den Wählern als ein Fremdkörper, als etwas ihnen Aufgezwungenes betrachtet. Und folglich – enttäuscht von einer Partei – suchen sie einen neuen Vertreter ihrer Interessen. In der Vergangenheit war es Simeon Sakskoburggotski, jetzt ist es Boiko Borissov.

Kann man denn Ihrer Meinung nach erwarten, dass diese neue Partei - nach ihrer Gründung - sich von den etablierten Parteien unterscheiden würde?

Nein, dafür gibt es keine Garantie. Demokratie bedeutet ja Veränderung. Die etablierten politischen Parteien in Bulgarien versäumen die Möglichkeit, überzeugende Beweise für ihre Bereitschaft zu liefen, aus begangenen Fehlern zu lernen und sich zu verändern. Dieser Veränderungswille drückt sich zweifellos auch darin aus, eine neue politische Führung aufzustellen. Das beobachten wir übrigens bei den politischen Parteien im Westen. Wenn im Westen Wahlen verloren werden, tritt die Parteiführung ab und gibt den Weg für die Wahl von neuen Führungspersönlichkeiten frei. So zeigt die Partei, dass sie ihr Fehler erkannt hat und bereit ist, sich zu verändern. Mit den neuen Personen kommen auch neue Ideen, neue Energie, neue Visionen. In Bulgarien geschieht das nicht. Wir, in Bulgarien, stellen fest, dass keiner der Parteivorsitzenden seine Verantwortung erkennen und seine Schuld eingestehen und dann die entsprechenden Konsequenzen ziehen will. Die meisten Parteivorsitzenden, die gescheitert sind und Wahlen verloren haben, beharren auf folgendem Standpunkt: "Die Wähler haben mich nicht verstanden. Das heißt: Die Wähler sind schuld und ich habe recht.

Welche Grundlinie wird Ihrer Meinung nach die zu gründende Partei GERB von Boiko Borissov vertreten? Wo sehen sie die Menschen - links, in der politischen Mitte oder ganz rechts?

Es ist noch zu früh, darüber zu spekulieren. Bisher ist nur eine Bewegung offiziell registriert worden. Ich kann nur aufgrund der Wählerbewegungen annehmen, dass die Anhänger aus allen Richtungen kommen, angezogen vom persönlichen Charisma Borissovs. Sie meinen, dass er sich klarer äußert, dass er größere Tatkraft besitzt, dass er energisch an die Lösung der Probleme herangeht - nicht als Parteiführer, der viel spricht, ohne dass man genau weiß was er will. Das sehen und hören die Menschen. Bisher jedoch kann man nicht von einer klaren politischen Richtung oder von konkretem politischem Programm sprechen.

Das Gespräch führte Emilyan Lilov, Sofia
DW-RADIO/Bulgarisch, 26.4.2006, Fokus Ost-Südost