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"Die Deutschen haben sich verzettelt"

12. August 2005

Was denken Deutsche im Ausland über ihre Heimat und die vorgezogenen Neuwahlen? DW-WORLD hat bei deutschen Zeitungen und Online-Magazinen im Ausland nachgefragt. Diesmal: Einschätzungen der Prager Zeitung.

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Die Prager Zeitung zur Wahl 05

"Wie tief ist Tschechiens Vorbild gesunken", fragt sich dieser Tage besorgt die Wirtschaftszeitung "Hospodářské noviny". Der Kommentator macht sich Gedanken über Deutschland. Galt doch der große Nachbar nach der Wende von 1989/1990 schlechthin als Vorzeigebeispiel für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft. Nun war auch die Grenze kein Hindernis mehr. Viele Tschechen konnten sich mit eigenen Augen vom Wohlstand der Deutschen überzeugen. Und zugleich kamen die Deutschen als Touristen ins Land, fuhren große Autos, konnten sich teure Hotels leisten und erzählten von zu Hause.

Tausende tschechische Emigranten, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 in Deutschland Aufnahme gefunden hatten, kehrten zurück und berichteten von ihren Erfahrungen, ihren Lebensverhältnissen. Das bestätigte viele Tschechen in ihrer Überzeugung, dass das deutsche Modell das richtige auch für ihr Land sei. Die liberalen Regierungen unter Václav Klaus in der ersten Hälfte der neunziger Jahre wollten zwar eine Marktwirtschaft ohne das Attribut "sozial" – übrigens sehr zum Ärger von Bundeskanzler Helmut Kohl. Doch die sozialdemokratischen Regierungen gehen seit 1998 den Weg der sozialen Marktwirtschaft.

Angekratztes Image

Und nun das: In Deutschland soll längst nicht mehr alles Gold sein, was da glänzt. Die für mustergültige Organisation bekannten Deutschen haben sich verzettelt, berichten die Zeitungen. Da liest der tschechische Bürger kopfschüttelnd von Wohnungsbauförderung und gleichzeitigem Abriss leerstehender Wohnhäuser. Er erfährt, dass die Kassen in Bund, Ländern und Kommunen leer sind, trotzdem aber millionenschwere Dotierungen vergeben werden, wie für den Bau einer Badelandschaft für das 4000 Köpfe zählende thüringische Tabarz.

Sogar VW, das Musterunternehmen Deutschlands, dessen tschechische Tochter Škoda auto als die Lokomotive der hiesigen Wirtschaft gilt, kommt ins Straucheln. Ungläubig registriert die Öffentlichkeit, wie der Ruf des Konzerns durch anscheinend korrupte Spitzenmanager kaputtgemacht wird. Der Vorwurf zahlreicher deutscher Investoren, in Tschechien behindere sie Korruption, wird seitdem mit einem wissenden Lächeln quittiert.

Die Anteilnahme der Tschechen

Deutschland muss tatsächlich in einer Krise stecken, glauben nun auch die tschechischen Nachbarn. Dass Bundeskanzler Gerhard Schröder nach der Niederlage seiner Partei in der Landeswahl in Nordrhein-Westfalen gewissermaßen die Notbremse zog und vorgezogene Neuwahlen initiierte, stößt deshalb auf Verständnis. "In Deutschland drängt die Zeit", schreibt die liberale Tageszeitung "Lidové noviny" und setzt fort: "Den Deutschen bleibt keine andere Wahl. Egal ob Schröder oder Angela Merkel das Rennen machen, die Reformen müssen fortgeführt werden."

All diese Beobachtungen sind keineswegs Selbstzweck. Deutschland ist Tschechiens größter Außenhandelspartner und zugleich auch größter Auslandsinvestor. Stottert die deutsche Wirtschaft, merkt das auch Tschechien. Zumal seit dem EU-Beitritt des Landes die Bande zum deutschen Nachbarn – aber nicht nur zu diesem – noch enger geworden sind. Und die tschechischen Bürger wissen auch, dass ein geschwächtes Deutschland dem europäischen Prozess nicht zuträglich ist. Der Kommentator der "Lidové noviny" bringt das auf den Punkt, wenn er schreibt: "Je mehr Probleme die Deutschen mit sich selbst haben, desto weniger können sie Europäer sein."

Uwe Müller, Chefredakteur der Prager Zeitung
Uwe Müller, Chefredakteur der Prager ZeitungBild: Prager Zeitung

Uwe Müller, Chefredakteur Prager Zeitung

Wichtiger Hinweis: Dies ist ein Gastbeitrag. Die Inhalte geben die Meinung des Gastautoren, nicht die Meinung der Redaktion von DW-WORLD wieder.