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Interview mit Jacques Delors

29. Oktober 2011

Jacques Delors hält nicht viel von Regierungen, die um Lösungen feilschen. Nach dem Gipfel zur Euro-Rettung sieht der frühere EU-Kommissionspräsident Europa weiter in Gefahr.

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Jacques Delors, ehemaliger EU-Kommissionspräsident (Foto: Radike/ Institut für Auslandsbeziehungen e.V.)
Europäisches Urgestein: Jacques DelorsBild: Radike/Institut für Auslandsbeziehungen e.V.

DW-WORLD.de: Monsieur Delors, noch im August sahen Sie Europa am Abgrund. Wie bewerten Sie jetzt die Ergebnisse des EU-Gipfels zur Rettung des Euros?

Die Hand von Jacques Delors (Fotos: Radike/ Institut für Auslandsbeziehungen e.V.)
Die Einheitliche Europäische Akte 1986 stammte aus Delors Feder. Damit legte er den Grundstein für den EuroBild: Radike/Institut für Auslandsbeziehungen e.V.

Jacques Delors: Was die Banken und die Staatsschulden einiger Mitgliedsländer betrifft, sind die Regelungen solide und können bestehen. Die Banken haben zur Rettung Griechenlands ein größeres Opfer akzeptiert. In der aktuellen Lage konnte man nichts Besseres erhoffen. In Bezug auf die Beschlüsse zur zukünftigen institutionellen Organisation der Euro-Zone bin ich allerdings sehr enttäuscht. Das Ergebnis gleicht einer Maschine mit tausend verworrenen Schläuchen. Neue Gruppen, neue Präsidenten wurden geschaffen, aber die Bedienungsanleitung der Maschine bleibt unklar.

Welche Auswirkungen haben die Gipfelergebnisse auf die Einigkeit und den Zusammenhalt der EU?

Jacques Delors, ehemaliger EU-Kommissionspräsident (Foto: Radike/ Institut für Auslandsbeziehungen e.V.)
Die EU-Gipfelbeschlüsse löschen das Feuer am brennenden Haus. Nicht mehr.Bild: Radike/Institut für Auslandsbeziehungen e.V.

Der Beschluss zu gemeinsamen Maßnahmen für die Eurozone wurde mit Poker-Methoden zwischen den EU-Mitgliedsstaaten ausgehandelt. Damit hat man sich quasi gegen die Gemeinschaftsmethode ausgesprochen. Die Europäische Kommission kommt damit aufs Abstellgleis. Jetzt gibt es vier oder fünf Gruppen - die Union ist zersplittert. Dabei hat sich die Gemeinschaftsmethode in der Vergangenheit bewährt: immer wenn sie funktioniert hat, machte Europa Fortschritte. Das ist die einzige Methode, die einfach und effizient ist. Diese Methode zwingt die Regierungen dazu, gemeinsam zu entscheiden.

Mit den Gipfelbeschlüssen müsste zwar das Feuer in der Euro-Zone gelöscht sein, aber mit dem gemeinschaftlichen Europa wird es weiter bergab gehen. Der Autoritätsverlust der EU-Kommission ist dafür das Symbol.

Bilder und Urkunden von Jacques Delors (Foto: Radike/ Institut für Auslandsbeziehungen e.V.)
Ein Leben für Europa: Jacques Delors gilt als Vater des heutigen EU-Binnenmarktes.Bild: Radike/Institut für Auslandsbeziehungen e.V.

In einem Interview der französischen Tageszeitung "Le Monde" haben Sie im August Vertragsreformen vorgeschlagen. Es müsse möglich sein, dass Mitglieder der Euro-Zone freiwillig oder erzwungen aus der Währungsunion austreten können. Ist diese Option auch nach den jüngsten Beschlüssen noch notwendig?

Absolut notwendig, aus einem einfachen Grund: Die 27 EU-Mitgliedsstaaten teilen sich einen gemeinsamen Binnenmarkt und 17 Staaten teilen sich sogar den Euro. Eine gemeinsame Währung ist mehr als nur ein Symbol, sie ist das Spiegelbild der Souveränität einer Nation. Die Menschen sind sehr um ihre Währung besorgt. Schon deshalb haben alle, die in der Währungsunion sind, eine viel größere Verantwortung als jene, die nur Teil der EU-27 sind. Ich fand es deshalb skandalös, dass Finnland oder die Slowakei für ihre Solidarität in der Euro-Krise Garantien verlangt haben.

In ihrer Zeit als Präsident der Europäischen Kommission wurde 1992 der Binnenmarkt Europas vollendet. Im Moment befinden wir uns nur noch in der Abwehrschlacht um den Erhalt des Euros. Fehlen der EU derzeit die großen und gemeinsamen Ziele?

Bücherschrank von Jacques Delors (Foto: Radike/ Institut für Auslandsbeziehungen e.V.)
2004 erschien Delors Buch "Erinnerungen eines Europäers" - ein Bekenntnis zur Europäischen IntegrationBild: Radike/Institut für Auslandsbeziehungen e.V.

Ja, sie haben Recht. Ein schwerer Fehler ist es, dass der Euro derzeit alle anderen Probleme der Europäischen Union unter den Teppich kehrt. Wir kümmern uns um nichts anderes mehr. Zum Beispiel hat Deutschland eine sehr wichtige Weichenstellung in seiner Energiepolitik vorgenommen. Hat die europäische Energiepolitik die Konsequenzen daraus gezogen? Nein, natürlich nicht. Oder nehmen sie die Verhandlungen um ein weltweites Freihandelsabkommen – auch darum kümmern sich die Europäer kaum. Oder die Gefahr einer bevorstehenden wirtschaftlichen Rezession in Europa. Die EU hat weder die Mittel noch die Instrumente, die Wirtschaft in einem solchen Falle zu stützen. Es scheint, als regiert in Europa nur noch die "Diktatur des Augenblicks". Dabei verlangt gerade ein Projekt wie die Europäische Union eine gemeinsame Vision vom Zusammenleben in Vielfalt. Eine solche Vision erkenne ich derzeit nicht.

Jacques Delors war von 1985 bis 1994 Präsident der EU-Kommission. Der heute 86 Jahre alte Franzose war zuvor einige Jahre Mitglied des Europaparlaments, sowie französischer Wirtschafts- und Finanzminister unter Präsident François Mitterrand. Als Kommissionspräsident hat Delors den EU-Integrationsprozess maßgeblich vorangetrieben. Sein Name steht für die Schaffung des Gemeinsamen Binnenmarktes und den Maastrichter Vertrag, der 1992 zur Gründung der Europäischen Union führte. 1996 gründete Delors die Studieneinrichtung "Notre Europe", die ein Zusammenwachsen Europas zum Ziel hat. Am Donnerstag (27.10) wurde Delors für dieses Lebenswerk mit dem Theodor-Wanner-Preis 2011 ausgezeichnet. Der Preis des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) ehrt Persönlichkeiten, die sich besonders um den Dialog der Kulturen verdient gemacht haben.

Das Gespräch führte Richard A. Fuchs

Redaktion: Andreas Noll