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Die ewige Last der Tokioter Prozesse

Martin Fritz (aus Tokio)19. Januar 2016

Die Umstände des Tokioter Militärgerichtshof, der vor 70 Jahren eingesetzt wurde, belasten die Beziehungen in Ostasien bis heute. Nun bemüht sich Japans Premier Shinzo Abe um einen Schlussstrich unter der Vergangenheit.

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Angeklagte auf dem Tokioter Prozess (Foto: Getty Images)
Bild: Keystone/Getty Images

Am 19. Januar 1946 setzte der alliierte Oberbefehlshaber für Japan, General Douglas MacArthur, auf der Grundlage der Potsdamer Erklärung den "Internationalen Militärgerichtshof für den Fernen Osten" ein. Nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse in Deutschland wurden 28 militärische und politische Führer von Japan Japaner wegen Verschwörung gegen den Weltfrieden, Mord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Die Vorwürfe reichten von Gefangenenmissbrauch, Vergewaltigung, Folter, Misshandlung von Arbeitern, willkürlichen Hinrichtungen bis zu unmenschlichen Experimenten. Nach zweieinhalb Jahren wurden sechs Angeklagte zum Tode durch den Strang verurteilt und am 23. Dezember 1948 hingerichtet. Die meisten übrigen erhielten lebenslange Haftstrafen.

Von Anfang an krankten die Tokioter Prozesse an schweren Geburtsfehlern. Vor allem wurden der japanische Kaiser, Tenno Hirohito, und die übrigen Mitglieder der Kaiserfamilie von der Strafverfolgung ausgenommen, obwohl der Krieg im Namen des Kaisers geführt wurde und viele Offiziere und Soldaten sich durch seine Göttlichkeit in ihren Taten legitimiert fühlten. Die US-Besatzungsregierung manipulierte sogar die Aussagen vieler Angeklagter, um die Mitverantwortung von Hirohito verschleiern.

General Douglas MacArthur (l.) und Tenno Hirohito. (Foto: AFP)
General Douglas MacArthur (l.) und Tenno HirohitoBild: AFP/AFP/Getty Images

Mit der Verschonung des Kaisers wollte die US-Regierung die Umsetzung der demokratischen Reformen absichern. Tatsächlich fügte sich der damalige Tenno widerstandslos in die Nachkriegsordnung ein. Zudem bemüht sich sein Sohn, der Tenno Akihito, bis heute darum, dass die Kriegsvergangenheit Japans nicht in Vergessenheit gerät.

Beschädigte Glaubwürdigkeit

In der Rückbetrachtung ändert dies jedoch nichts daran, dass durch die Ausklammerung des Kaiserregimes die Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs von Anfang an gering war. Sie wurde zusätzlich durch die Immunität für den japanischen Arzt Shiro Ishii und seine Mitarbeiter beschädigt. Diese hatten grausamen Experimente mit biologischen und chemischen Waffen an Chinesen und anderen Gefangenen durchgeführt. Die USA waren mehr an den Ergebnissen interessiert als an der Strafverfolgung dieses japanischen Josef Mengele, der als deutscher Arzt im Konzentrationslager Auschwitz ebenfalls Häftlinge für Experimente gequält und getötet hatte. Mengele wurde nach dem Krieg als Verbrecher gesucht und nie gefasst. Er konnte mit gefälschten Asuweispapieren nach Südamerika fliehen.

Shiro Ishii experimentierte biologische Kriegsführung und Chemiewaffen an chinesischen Gefangenen. Die Einheit war als "Unit 731" bekannt. (Foto: Xinhua)
Shiro Ishii experimentierte biologische Kriegsführung und Chemiewaffen an chinesischen Gefangenen in Harbin/China. Die Einheit war als "Unit 731" bekanntBild: imago

Außerdem trugen formal juristisch fragwürdige Methoden dazu bei, dass japanische Nationalisten das Militärtribunal bis heute als ungerechte Siegerjustiz kritisieren können. So gab es im internationalen Recht keine "Verbrechen gegen den Frieden". Ein Richter aus den Philippinen war wegen seiner Beteiligung an dem Todesmarsch von Bataan nach dem normalen Rechtsverständnis befangen. 1942 bezwangen auf den Philippinen japanische Soldaten Kriegsgefangene, überwiegend Amerikaner und Philippinen, 120 Kilometer zu Fuß zu marschieren. Dabei hatten Wasser und Nahrung gefehlt und sich Krankheiten wie Malaria ausgebreitet. 15000 Menschen verloren ihr Leben.

Zudem wurden die Presseerklärungen der Alliierten, viele ungeprüfte Dokumente und Aussagen vom Hörensagen als Beweismittel zugelassen. Jedoch lehnte als einziger der zwölf internationalen Richter nur der Inder Radhabinod Pal die Legitimität des Gerichtshofs ab. Daher verehren japanische Nationalisten wie der derzeitige Premierminister Shinzo Abe den Inder bis heute. Zum Beispiel erklärte Abe im September 2014 bei einer Begegnung mit Indiens Regierungschef Narendra Modi, jeder Japaner kenne Pal, um seine Ablehnung der Tokioter Prozesse zu unterstreichen.

Japan Ex-Premierminister Tomiichi Murayama (Foto: Reuters)
Japan Ex-Premierminister Tomiichi MurayamaBild: Reuters/T. Hanai

Provokationen am Yasukuni-Schrein

Die zweifelhaften Prozessumstände vergiften die Atmosphäre zwischen den ehemaligen Kriegsparteien in Ostasien bis heute. Der Yasukuni-Schrein, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Kriegerdenkmal errichtet wurde, reihte nämlich vierzehn vom Tribunal verurteilte Japaner unter die für die Nation Gefallenen ein.

Wenn nationalistische Politiker wie die Regierungschefs Junichiro Koizumi (2001-2006) und Shinzo Abe (2006- 2007 sowie ab Ende 2012) diesen Schrein besuchen, fühlen sich China und Südkorea provoziert. Jedes Gedenken lässt sich nämlich als Aussage verstehen, dass der japanische Eroberungskrieg richtig und gerecht war. Daher sind japanische Nationalisten wenig daran interessiert, diesen diplomatischen Streit durch den Bau eines neuen neutralen Kriegerdenkmals zu beenden.

Andererseits kann man davon ausgehen, dass die Kriegsverbrechen der Japaner ohne das Tribunal wohl kaum an den Pranger gestellt worden wären. Wie zuletzt die Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima zeigte, gibt es eine starke Tendenz in der japanischen Gesellschaft, unangenehme Ereignisse unter den Teppich zu kehren und Schuld nicht juristisch aufzuarbeiten. Viele Politiker, Manager und Funktionäre der Kriegszeit bekleideten später wieder hohe Ämter. Bei der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit asiatischen Ländern beharrte Japan darauf, dass mit den Reparationen auch alle Kriegsverbrechen abgegolten seien. Daher weist Japan bis heute alle Ansprüche von Einzelpersonen nach Entschädigung zurück.

Japans Premier Abe will die Lasten der Vergangenheit verringern. (Foto: Reuters)
Japans Premier Abe will die Lasten der Vergangenheit verringernBild: Reuters/O. Harris

Bemühungen um Schlussstrich

Diese Gemengelage lässt die asiatischen Nachbarländer auf der einen Seite daran zweifeln, dass Japan wirklich aus seinen Kriegsverbrechen gelernt hat. Daher ist - anders als in Europa - keine Sicherheitsarchitektur und kein Gemeinschaftsdenken in Ostasien entstanden. Auf der anderen Seite können die Regierungen der Nachbarländer die Tatsache, dass es nur eine einzige offizielle Entschuldigung von Japan für den Krieg gibt, immer wieder für innenpolitischen Zwecke instrumentalisieren. 1995 sagte der sozialistische Premierminister Tomiichi Murayama, Japan habe enormen Schaden und enormes Leiden vor allem in asiatischen Ländern durch seine Kolonialherrschaft und Aggression verursacht. "Ich drücke hier noch einmal mein Gefühl der tiefen Reue aus und erkläre meine aufrichtige Entschuldigung", sagte Tomiichi Murayama.

Unterm Strich führt dies dazu, dass die Vergangenheit in Ostasien ständig präsent bleibt. Das bremst eine politische und wirtschaftliche Annäherung in dieser wichtigen Weltregion. Neuerdings bemüht sich Premier Abe darum, einen Schlussstrich unter die Debatte um die Kriegsvergangenheit von Japan zu ziehen.

So betonte er im Frühjahr 2015 bei der ersten Rede eines japanischen Regierungschefs im US-Kongress vor allem die demokratische Entwicklung von Japan und seine Bündnistreue gegenüber den USA. Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im August 2015 erklärte Abe sein Bedauern über den Krieg, vermied jedoch eine Wiederholung der Entschuldigung von 1995. Den Dauerstreit mit Südkorea über die Entschädigung von wenigen überlebenden Sexsklavinnen der Kaiserarmee beendete Abe im Dezember 2015 durch eine Abmachung mit der Regierung in Seoul. All dies soll die Lasten der Vergangenheit für Japan verringern und seine geopolitische Bedeutung stärken.