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Die Fortpflanzung der Autoschlange

Rafael Heiling8. März 2005

Manche Autobahnen sind eigentlich bloß sehr lange Parkplätze - mit chronischem Stau. Wissenschaftler können das Phänomen erklären, mit Teilchenphysik und Spieltheorie. Ob das eine Verkehrsrevolution ins Rollen bringt?

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Forschungsobjekt: mobiler StillstandBild: AP

Im Stau sind endlich mal alle gleich. Konzernmanager und Klempner, Kleinwagen und Kühl-Laster: Hier stehen sie alle, an traditionellen deutschen Stau-Orten, zwischen Kreuz Lotte-Osnabrück und Swisttal-Heimertsheim. Da wird das Fahrzeug zum Stehzeug. Aber wie kommt das?

Den Menschen geht die Straße aus

Stau in London
London hat Stau, aber auch ein Gegenmittel: eine Innenstadt-Maut. Stauforscher Michael Schreckenberger sieht Bezahl-Straßen als "internationales Allheilmittel"Bild: AP

Jedenfalls nicht aus dem Nichts, wie manche glauben. "80 Prozent der Staus entstehen dadurch, dass zu viele Leute zur gleichen Zeit auf der gleichen Strecke unterwegs sind", sagt Michael Schreckenberg, Professor für Verkehrsphysik an der Uni Duisburg-Essen. Oder, wie es der Film "Superstau" (1991) im Untertitel beklagt: "Alle wollen in den Süden. Alle im Auto. Alle möglichst schnell. Und alle zur gleichen Zeit..."

Da muss nur mal jemand zu kräftig bremsen: "Die danach bremsen noch stärker, das pflanzt sich fort", erklärt Peter Wagner, Abteilungsleiter Verkehrsinformatik am Deutschen Institut für Luft- und Raumfahrt. "Und die ganz hinten stehen dann." Schon gibt es ein paar Kilometer unfreiwillige Gebrauchtwagenschau.

Es wächst nach hinten

Verkehr Autobahn
Volle Straße plus Schnee - beste Voraussetzungen für eine unfreiwillige GebrauchtwagenschauBild: AP

Die Masse steht nicht nur, sondern bewegt sich rückwärts - sprich sie wird länger, sagt Schreckenberg: Mit 15 Kilometern pro Stunde wachsen Staus. Der Frust wahrscheinlich noch schneller. Denn die hinten fahren schneller heran, als die vorne loskommen.

Ganz schlimm sind die "Engstellen", also neben Baustellen und Unfällen vor allem Auffahrten, wenn ein Schwung Autos auf die Bahn will. Für Schreckenberg ist das ständige Stop and Go wie Atmung: "Es ist ein periodisches Phänomen. Das System atmet Autos ein und Stau aus."

Wo geht's, wo steht's?

Verkehrsstau in Lagos Nigieria
Staus sind ein internationales Problem. In Lagos (Nigeria) können sie Stunden dauernBild: AP

Wissenschaftler wollen den Stau begreifen - Vorhersagen, wann es wo haken könnte, gibt es schon. Einige Forscher haben Autos mit physikalischen Teilchen verglichen. "So lange viel Platz ist, bewegen die sich mehr oder weniger frei, wie beim Gas", erklärt Wagner. "Wenn ich den Druck erhöhe, fließen sie erst noch, bei noch stärkerem Druck frieren sie sozusagen ein." Außerdem würden Gasatome genau so ungern aneinanderstoßen wie Autofahrer.

Da ist für den Vergleich aber auch schon Ende der Stoßstange: "Im Auto sitzen Menschen, die sind keine Teilchen", sagt Schreckenberg. "Die reagieren unterschiedlich, die bremsen mal früher oder später." Und denken dummerweise mit. Wenn die automatischen Verkehrsschilder Tempo 60 verlangen, damit's gleichmäßig weitergeht, fahren die Trickreichen 80, erzählt Wagner: "Dann löst sich der Stau nicht auf, aber ich steh wenigstens vorne."

Fehlschlag Landstraße

Zur Entlastung müssten eigentlich Autofahrer rausfahren und die Landstraße nehmen, sagt Martin Treiber vom Lehrstuhl für Verkehrsmodellierung der Technischen Universität Dresden."Die hätten zwar nichts davon, aber auf der Autobahn würde es schneller gehen. Ein spieltheoretisches Problem."

Verkehrsunfall
Unfälle sind häufig ein Grund für Stau. Meistens ist die Straße aber schlicht zu vollBild: AP

Denn so altruistisch ist keiner, außerdem seien die Umleitungen auch fix überlastet. Also tapfer bleiben und sich beschäftigen, etwa, indem man mit den Socken aus der Reisetasche für die Kinder im Nachbarauto Kasperletheater spielt. Man verflucht höchstens den Kaffee, den man vorhin getrunken hat.

Stauen ist ein bisschen wie Spielen

Wagners Favorit ("Geniestreich!") ist der "Zellular-Automaten-Ansatz". Ein Modell, das die Straße in Kästchen unterteilt - die Autofahrer machen Züge wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht. Unterschiedlich weit, je nach Platz. Und wo schon ein Auto steht, kann kein anderes hin. Rollen in einer Stunde 1800 Fahrzeugen auf einer Spur, rollen sie vermutlich nicht mehr lange.

Bauarbeiter mit Preßlufthammer
Auch Baustellen können Stau-Ursache sein - abzufahren und die Landstraße zu nehmen, lohnt sich aber seltenBild: APTN

Apropos "ärgere dich nicht": Allein jeder Deutsche steht angeblich jährlich 58 Stunden im Stau; nach einer BMW-Studie kostet das die Volkswirtschaft 100 Milliarden Euro - vor allem Zeit. Kommt immerhin noch auf 30 bis 40 Millionen. Nerven nicht eingerechnet.

Der rasende Stillstand

Das Staustehen liegt irgendwie die Natur des Menschen (Kino. Kantine. Supermarkt.) Aber die Deutschen sind noch gut dran, findet Schreckenberg: "Wir jammern auf hohem Niveau. Wenn man sich mal Seoul, Istanbul oder Tokio anguckt - zehn Kilometer Stillstand auf vier Spuren. DAS ist Stau!"