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Die Frage nach den Werten

Peter Philipp30. Mai 2002

In Berlin diskutierten dieser Tage Wissenschaftler und Journalisten über "Integrationsmodelle für muslimische Bevölkerungsgruppen in Europa". Peter Philipp sprach mit dem Berner Orientalisten Prof. Dr. Reinhard Schulze.

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In Deutschland verboten: Die Extremistenvereinigung "Kalifatstaat"Bild: AP

Islamistische Gruppen und Bewegungen gibt es nicht erst seit dem 11. September 2001 und sie sind auch nicht erst seit jenem tragischen Tag bekannt. Sondern zum Teil schon seit den frühen Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Diese Gruppen haben sich weitgehend gelöst von ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild: Hatte man sich früher damit beschäftigt, welche Gesellschaftsform man für die Zukunft erhoffe, so konzentrieren die heutigen Gruppen sich vor allem auf die Frage nach den Werten der heutigen Gesellschaft.

Erste Gruppe

Dies ganz besonders in den Reihen der extremistischen und auch terroristischen Gruppen, die freilich in ihrer Art und Ausrichtung auch nicht identisch sind und sich an vier unterschiedlichen Strömungen orientierten, wie der deutsche Orientalist Prof. Reinhard Schulze von der Universität Bern meint: "Die eine große Gruppe, das sind die alten fundamentalistischen Zirkel und Kreise, die zu einer wertkonservativen Gemeinschaft geworden sind - die Muslimbrüder vor allem und andere große Verbände." Ihr Hauptziel sei es heute, eine Art "islamisches Gewissen" in der Gesellschaft zu spielen und sie bediene sich dabei auch immer öfter populistischer Methoden.

Zweite Gruppe

"Die zweite Gruppe, eine immer stärker werdende Gruppe von Intellektuellen, aber auch weit über die intellektuellen Kreise hinaus verankerte Gruppe - das sind die sogenannten "Demokraten". Das sind die islamistischen Gruppen, die aus dem Islam heraus plurale Ordnung, also Pluralismus, Demokratie, Partizipation, Gewaltenteilung und andere als global angesehene Werte der menschlichen Organisation zugrunde legen und das auch in ihrer islamischen Tradition verankern", fährt Schulze fort.

Diese zweite Gruppe sei inzwischen recht stark geworden und gehöre vor allem deswegen zu den islamistischen Gruppen, weil sie die Begründung für ihre Gesellschaftstheorie aus dem Islam selbst ableitet.

Dritte Gruppe

Im Gegensatz dazu sei die dritte Gruppe recht klein und konzentriere sich darauf, andere zu "Ungläubigen" zu erklären und nehme für sich das Recht in Anspruch, diese aus der Glaubensgemeinschaft auszuschliessen oder mit Gewalt gegen sie vorzugehen.

"Die bekanntesten unter diesen Leuten sind sicherlich die "Groupes Islamiques Armés" - also die bewaffneten Gruppen in Algerien, die genau mit dem Argument Mord und Totschlag verbreiten in Algerien".

Vierte Gruppe

Am gefährlichsten aber ist nach Prof. Schulze die letzte Gruppe: "Die vierte Gruppe, das ist dann die von den islamistischen Terroristen als positiv identifizierte Gruppe. Das sind die sogenannten ‚Jihadis' - also die Menschen, die ihr Lebensideal allein im Jihad verwirklicht sehen. Sowohl in der Lebenspraxis wie in der Vorstellung, wie die Welt organisiert ist in ihren Feindbildern und ihren Selbstbildern".

Für das nicht-islamische Ausland ist es entsprechend schwierig, mit einigen dieser Gruppen umzugehen. Aber gerade mit den eher konservativen Gruppen habe sich doch in den letzten Jahren durchaus ein Dialog entwickelt. Zum Beispiel von Seiten des Vatikan, der mit diesen konservativ-islamischen Gruppen gemeinsame gesellschaftliche Interessen diskutiert habe - wie etwa die Frage der Abtreibung, der Gentechnologie oder auch - generell - der Familie.

Dialogfähigkeit

Mit den "Demokraten" könne man auch diskutieren, denn man teile doch auch hier eine Reihe gemeinsamer Interessen und die islamische Begründung des Pluralismus stelle für die europäischen Gesprächspartner sogar eine Bereicherung dar. "Mit der dritten oder der vierten Gruppe ist im Grunde kein Gespräch möglich. Das sind teilweise Sekten, die verhalten sich wie Sekten, und es ist genau so schwierig, mit denen zu sprechen wie etwa mit den Neuadventisten in Amerika."

Die alten "Jihadis" hätten noch ihre afghanische Verbindung gehabt, weil sie dort gemeinsam gegen die Sowjetunion - als Feind des Islam - gekämpft hatten und weil sie für diesen Kampf dort ausgebildet worden seien. Dies gelte aber nur noch begrenzt für die neue Generation der "Heiligen Krieger": "Die neuen Jihadis, die nicht mehr in Afghanistan waren - wie viele jetzt, die auch die Attentate in New York und Washington gemacht haben, die haben sich schon aus diesem Kontext wieder herausgelöst und haben diese Jihad-Identität globalisiert. Für sich persönlich. Und die brauchen gar nicht mehr nach Afghanistan zu gehen ins Trainingscamp, um ausgebildet zu werden. Das kann überall in der Welt sein, das kann wie einer in Florida sein, der dort ausgebildet wird. Oder im Jemen oder eben manchmal auch noch in Afghanistan".