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Women of the Wall

Vanessa O'Brien / db 23. Juni 2013

Der Streit an der Jerusalemer Klagemauer um religiöse Rechte für Frauen führt zu einer Identitätskrise im Land. Was bedeutet es, jüdisch zu sein und in einem demokratischen Staat zu leben - ist das vereinbar?

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Women of the Wall Mitglieder beten an der Mauer (Foto: Women of the Wall)
Bild: Women of the Wall

Die leidenschaftliche Zionistin und konservative Jüdin Bonnie Ras hätte nie gedacht, dass ihr Name eines Tages in einer Gerichtsverhandlung gegen den Staat Israel auftaucht. Genau das ist allerdings Ende April passiert, als ein Jerusalemer Gericht ein historisches Urteil zugunsten von Aktivistinnen der "Women of the Wall"-Bewegung fällte. Die Frauen - unter ihnen Ras - hatten für das Recht gekämpft, gemäß ihrer eigenen Sitten an der Klagemauer zu beten - am heiligsten Ort des Judentums neben dem Tempelberg.

Das Gebet an der "westlichen Mauer" ist seit 1967 Teil der ultraorthodoxen Haredi-Tradition. Männer und Frauen beten getrennt: Männer dürfen beten, singen oder laut aus der Tora lesen und dabei einen Gebetsschal, den Tallit, tragen. Die Frauen hingegen bleiben stumm. Das zumindest war bis vor kurzem so.

Seit 25 Jahren beten die "Women of the Wall"-Frauen nun schon Monat für Monat an der Klagemauer. Die Pobleme begannen allerdings erst 2009, als die Frauen anfingen, laut aus der Tora zu lesen und einen Gebetsschal zu tragen, erzählt Ras der DW.

"Die Klagemauer gehört uns allen"

"Wir wollen keine Männer sein", sagt Ras. "Wir sind gläubige Frauen, wir sind gebildet und wir übernehmen Pflichten, von denen die Ultraorthodoxen behaupten werden, Frauen seien davon ausgenommen. Die Klagemauer gehört uns allen", meint Ras.

Bonnie Ras (Foto: Women of the Wall)
Bonnie Ras wurde wegen ihrer Gebete an der Mauer bereits dreimal verhaftetBild: Women of the Wall

Die Aktion rief nicht nur ultraorthodoxe Juden auf den Plan, die die Frauen bei ihren monatlichen Besuchen verbal and körperlich attackierten, sondern auch den Staat, der sich als demokratisch und jüdisch bezeichnet.

Die betenden Frauen wurden zum Streitpunkt der israelischen Gesellschaft: Was bedeutet es, jüdisch zu sein? Sollte der Staat eine weiter gefasste Definition vom Jüdischsein zulassen als die ultraorthodoxe Tradition, die in Israel seit der Staatsgründung 1948 vorherrscht?

Die monatlichen Gebets-Treffen wurden zum vorhersehbaren Medienevent. Regelmäßig nahmen Polizisten die Frauen fest, weil sie an einem heiligen Ort eine religiöse Zeremonie durchführten, die nicht im Einklang mit lokalen Sitten war: Sie verstießen gegen das Gesetz.

Der Kampf um religiösen Pluralismus mündete in einem Gerichtsverfahren, das "Women of the Wall" letztendlich gewannen. Das Jerusalemer Amtsgericht urteilte, dass Frauen, die an der Klagemauer einen Gebetsschal tragen oder die Tora lesen, nicht gegen vorherrschendes Recht verstoßen oder die öffentliche Ruhe stören - und deswegen auch nicht verhaftet werden dürfen.

Jüdische Identitätskrise

Der Fall spaltet die Nation. Laut einer Meinungsumfrage des "Israel Democracy Institute" und des Peace Index der Universität von Tel Aviv im Mai unterstützen 56 Prozent der Bevölkerung Israels die Frauen, während 34 Prozent ihr Anliegen ablehnen. Der für die Klagemauer zuständige Rabbiner Schmuel Rabinowitsch gehört zur letzteren Gruppe. Strenggläubige Sitten sollten erhalten bleiben, meint der Rabbiner. Das Gerichtsurteil findet er "wirklich unangemessen": "Wir reden hier von einer kleinen Gruppe, die versucht, Zwietracht zu säen. Ich bitte sie, damit aufzuhören."

Der Fall der Frauen von der Klagemauer weckt in Israel landesweit Emotionen - und das zu einer Zeit, in der die Lebensweise der ultraorthodoxen Juden samt aller Privilegien hinterfragt wird.

Bisher standen strengreligiöse Juden an der Spitze der Schlüsselministerien, um ihre Kontrolle über Ehe, Einwanderung, das Wohnungwesen und Bildung zu sichern. Damit schützten sie ihre eigenen Gemeinden und definierten, was es bedeutet, ein Jude zu sein. Richter an religiösen Gerichten sind ultraorthodox. Bisher sind ultraorthodoxe Juden auch vom obligatorischen Armeedienst freigestellt, damit sie ihren religiösen Studien nachgehen können. Dafür erhalten sie sogar ein Stipendium.

Diese Privilegien stoßen bei vielen weltlichen Juden auf Ablehnung. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wurde gedrängt, eine Regierung ohne ultraorthodoxe Parteienbeteiligung zu bilden - was er nach Parlamentswahlen im Januar dann auch tat.

Rabbi Ken Spiro vor der Mauer (Foto: Vanessa O'Brien)
Große Veränderungen kommen auf die Ultraorthodoxen zu, so Rabbiner SpiroBild: Vanessa O'Brien

Damit verloren die Ultraorthodoxen enorm an politischem Einfluss. Nun soll sich auch noch ein Kurswechsel der Regierung auf ihre Lebensweise auswirken. Die Regierung plane, Ultraorthodoxe mehr in die Gesellschaft zu integrieren: sie sollen weltliche Angelegenheiten studieren und Militärdienst leisten, erklärt der orthodoxe Rabbiner Ken Spiro vom Aish Ha Torah Jewish Educational Center in Jerusalem. "Das ist eine riesige Veränderung, die größte in mehr als 30 Jahren. Es ist ein direkter Angriff - ich benutze das Wort mit Vorsicht - auf diese sehr abgeschottete Gemeinschaft."

Es gebe keine Ausrede für Gewalt oder die anhaltenden Proteste, die die "Women of the Wall" seit Verkündung des Gerichtsurteils im April erduldet haben, so Spiro. Aber man müsse den Konflikt in einem größeren Kontext betrachten, fügt er hinzu: die Ultraorthodoxen würden von allen Seiten belagert.

Sanfter Übergang oder Bürgerkrieg?

Etwa 10 Prozent der Bevölkerung Israels sind ultraorthodoxe Juden. Sie haben die höchste Geburtenrate: im Schnitt acht Kinder pro Familie. Sie haben auch die höchste Arbeitslosenrate. Das sei für die Zukunft unhaltbar, meint Spiro. Es müsse sich etwas ändern - aber behutsam.

"Sonst könnte es fast so etwas wie einen Bürgerkrieg im Land geben", ist sich Spiro sicher. Deshalb sei es auch problematisch, dass "Women of the Wall" mit ihrem Anliegen auf diese Art und Weise an die Öffentlichkeit drängten, meint der Rabbiner.

Ultraorthodoxe Juden (Foto: imago/Xinhua)
Ultraorthodoxe Juden sind nicht mehr an der Regierung beteiligtBild: imago/Xinhua

Sie fühle durchaus mit den Ultraorthodoxen, die nun gezwungen seien, sich anzupassen, sagt Aktivistin Ras. Die Gruppe sei schließlich relativ unberührt von der modernen Welt. "Aber deswegen kann man das Judentum und den Rest der Welt nicht einfach ausklammern", so Ras. "Sie sind nicht mehr in der Regierung. Sie spüren den Druck und fühlen sich sehr bedroht. Und als Kriegsschauplatz haben sie den heiligsten Ort des Judentums gewählt."

Sollte die Staatsanwaltschaft Revision einlegen oder Abgeordnete gar die Gesetze ändern, um die Aktivitäten der Frauen zu verbieten, steht den Frauen an der Klagemauer vielleicht ein neuer Prozess bevor. Es gibt bislang kein Anzeichen, dass die Ultraorthodoxen den Kampf aufgegeben haben.