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Die furchtlose Hausangestellte

Steffen Leidel 25. November 2006

Mit 13 verließ Casimira Rodriguez ihr Dorf, in der Stadt musste sie als Hausangestellte wie eine Sklavin arbeiten. "Irgendwann verlor ich die Angst und begann zu kämpfen", sagt sie. Heute ist sie Justizministerin.

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Casimira Rodriguez
Ist das Kämpfen gewöhnt: Casimira RodriguezBild: DW/Steffen Leidel

Für einen Moment gibt es für Casimira Rodriguez nichts Schöneres als sich im Kreise zu bewegen. Sie möchte noch nicht zurück ans Ufer und bittet den Mann am Ruder, noch einmal im Kreis zu fahren. Das Holzboot tuckert über das sich kräuselnde Wasser. Einen Vormittag hat sich die Justizministerin Boliviens für einen Sonntagsausflug an den Titicacasee genehmigt. Sie reckt ihren Hals der wärmenden Sonne entgegen und holt tief Luft. Es ist als wolle sie so viel Ruhe wie möglich in sich einatmen. Sie weiß, bald muss sie zurück in den Sturm des Alltags als Justizministerin.

Schlechtes Wetter über La Paz, Regierungssitz von Bolivien
Schlechtes Wetter über La Paz, Regierungssitz von Bolivien. Hier hat Rodriguez gelernt, sich zu behauptenBild: DW/Steffen Leidel

Casimira Rodriguez ist Gegenwind gewohnt, doch jetzt als Ministerin hat er Orkanstärke erreicht. Das gesamte Justizwesen ist in Aufruhr, seit Präsident Evo Morales eine unstudierte Quechua-Indianerin an die Spitze des Ministeriums stellte. Anwälte und Staatsanwälte, Richter und Justizbeamte, wettern gegen Rodriguez. Sie werfen ihr mangelnde Qualifikation vor, doch in Wirklichkeit fürchten sie, ihre über die Jahre angehäuften Privilegien zu verlieren. Selbst in der Regierungsmannschaft sitzen ihre Gegner. Jene Kräfte, die einen radikalen Wechsel befürworten, bewerten die auf Konsens ausgerichtete Haltung von Rodriguez als Passivität.

Das Justizwesen ein Markt

Die Ministerin hat eines der schwersten Ressorts erwischt. Boliviens Rechtssystem ist korrupt, ineffizient und heillos überlastet. Die Gefängnisse platzen aus allen Nähten, Gerichtsurteile werden oft nach Gutdünken gefällt, es dauert meist Jahre bis ein Verfahren überhaupt beginnt. Die Richter und Anwälte haben es sich in diesem System jedoch gut eingerichtet und sich daran fettgefressen.

Die Besetzung des Ministerpostens mit Rodriguez hätte für sie nicht schlimmer sein können. Die sagt Sätze wie: "Unser Justizwesen ist wie ein Markt. Wer am besten zahlt, bestimmt, was gerecht und ungerecht ist". Solche Aussagen klingen wie eine Kriegserklärung in den Ohren der Rechtselite. Rodriguez will auch die traditionelle Rechtssprechung der Indigenen, die so genannte "justicia comunitaria", im bolivianischen Justizwesen stärken. Auch das ist eine Provokation für das bisherige Establishment.

"Dass auch eine Indigene in der Lage ist, wichtige Entscheidungen zu treffen, das geht bei vielen weißen Oberschicht nicht in den Kopf", sagt Rodriguez. "Der Rassismus ist schrecklich".

Schwere Jahre als Hausangestellte

Der Kampf gegen die Korruption hat für sie Priorität. Casimira Rodriguez hat ihre eigene, schmerzliche Erfahrung mit dem korrupten System schon als junge Frau gemacht. Zwei Jahre schuftete sie im Haushalt einer Mittelklassefamilie in Cochabamba. Bis zu 20 Stunden arbeitete sie pro Tag. Sie kochte, putzte, versorgte insgesamt 15 Personen. Nur zum Einkaufen durfte sie das Haus ihrer "Herren" verlassen. Sie machte eine Anzeige, doch der Richter ließ sich von ihren Ausbeutern kaufen, die Klage verlief im Sand.

Bolivien Casimira Rodriguez
Entspannung am TiticacaseeBild: DW/Steffen Leidel

Rodriguez hatte mit 13 Jahren ihr Dorf verlassen. Ein Mann aus dem Nachbardorf hatte auf sie eingeredet, sie könne in der Stadt viel Geld verdienen. In Wirklichkeit besorgte er reichen Familien nur billige Hausangestellte. Die junge Frau ließ sich überreden und ging, obwohl ihre Eltern dagegen waren. Doch Rodriguez wollte nicht nur ihren armen Eltern helfen, sie wollte auch Geld verdienen, um auf die Schule gehen zu können.

"Ich kam in die Stadt und verlor meine Rechte und mein Selbstwertgefühl", sagt sie heute. Nach der ersten Familie, kamen noch weitere vier. Einmal kehrte sie noch einmal in ihr Dorf zurück, doch dort konnte sie nicht überleben. So schuftete sie weiter. "Wir waren unsichtbare Wesen. Wir durften nicht reden, wir durften keine Meinung haben, mussten stets zu Diensten der Señora sein", erzählt Rodriguez. Sie machte durch, was tausende indigene Hausangestellte auch durchleben mussten. Doch im Gegensatz zu den anderen wollte sie sich nicht ihrem Schicksal fügen.

Selbstwertgefühl wiedergefunden

"Irgendwann erwachte ich aus diesem Alptraum und verlor die Angst. Ich traf mich mit anderen Hausangestellten und sagte ihnen: Auch wir haben Rechte. Wir müssen nur dafür kämpfen". Rodriguez engagierte sich in der nationalen Vereinigung der Hausangestellten, zunächst heimlich, dann lautstark. Sie wurde Vorsitzende der Vereinigung. Ihr größter Erfolg war die Verabschiedung eines Gesetzes zur Regelung der Arbeit der Hausangestellten.

Rodriguez kämpfte, gleichzeitig wurde sie bekämpft. Sie wurde beschimpft, beleidigt, bedroht. "Du wirst Schuld sein, dass die Hausangestellten ihre Jobs verlieren", sagten ihr jene, die sie jahrelang geknechtet hatten. Doch viele standen ihr bei und sie hatte einen mächtigen Förderer, den Kokabauer Evo Morales. Immer wieder kreuzten sich ihre Wege bei ihrem politischen Kampf. Zwei Mal lehnte sie ein Angebot von ihm ab, sich politisch zu engagieren. Beim dritten Mal sagte sie zu - und wurde Ministerin.

"Ich bin nicht als Berufspolitikerin eingestiegen, sondern als ganz normale Bürgerin", sagt die Ministerin. Die Ernennung von Morales zum Präsidenten sei ein historischer Moment. "Für die Indigenen war das wie eine Wiedergeburt. Sie haben ihr Selbstwertgefühl wieder gefunden und vor allem die Hoffnung", sagt sie.

"Wir sind nicht da, weil wir perfekt wären, sondern da wir all die Tränen und die Toten eines 500 Jahre dauernden Kampfes repräsentieren". Rodriguez geht es nicht um Rache. Auch Begriffe wie Marxismus oder Kommunismus vermeidet sie. "Die andine Kultur ist für mich der Ausgangspunkt. Es geht um eine gerechtere Verteilung des Reichtums", sagt sie. Das sei für alle Bolivianer gut. Dass das nicht alle so sehen, weiß sie. Deswegen wird der Sturm auch nie aufhören.