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Die Geister des Genozids

Jacob Resneck / sp23. April 2015

Die Grenze zwischen der Türkei und Armenien ist seit 1993 geschlossen. Die Menschen auf beiden Seiten hoffen, dass ihre Heimatländer ihre Streitigkeiten bald lösen können. Jacob Resneck berichtet aus dem Grenzgebiet.

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An der Grenze zwischen der Türkei und Armenien ist Stacheldraht gespannt (Foto: Filip Warwick / DW)
Bild: DW/F. Warwick

Nicht weit von der westarmenischen Stadt Yerazgavors ragen die Minarette der türkischen Moscheen in den Himmel. Dazwischen liegt der See Ahuryan, entstanden durch ein türkisch-sowjetisches Staudammprojekt in den 1970er-Jahren. Die Lage in der Region scheint heute noch angespannter, als zu Zeiten des Kalten Krieges. Der Grenzübergang zur Türkei ist geschlossen. Die armenische Seite wird von russischen Soldaten bewacht - eine Vereinbarung zwischen Russland und Armenien garantiert Moskau bis ins Jahr 2045 den Aufenthalt von Truppen in der ehemaligen Sowjetrepublik.

"Die Grenze sollte offen sein. Es sollte zwischen Nachbarn keine Barrieren geben", klagt der Bezirksbürgermeister Artashes Mkhitaryan auf dem staubigen zentralen Platz der Stadt. "Sie ist aber derzeit nicht offen, weil wir keinerlei diplomatische Beziehungen zur Türkei pflegen."

Die Last des Genozids

Gründe dafür gibt es viele. Vornehmlich zählt dazu die umstrittene Einordnung des Massakers an bis zu 1,5 Millionen ethnischen Armeniern im Osmanischen Reich. Am Freitag gedenkt Armenien dem 100. Jahrestag des Völkermords. Die türkische Regierung lehnt die Bezeichnung "Genozid" oder "Völkermord" hingegen ab. Ankara bestreitet, dass der Massenmord durch den Staat gelenkt wurde. Zudem werde durch die Debatte der Mord muslimischer Türken durch armenische Nationalisten im Jahr 1915 heruntergespielt, klagt die türkische Politik.

Zwei russische Soldaten patrouillieren an der Grenze zwischen Armenien und der Türkei (Foto: Filip Warwick/DW)
Russische Soldaten patrouillieren an der Grenze zwischen Armenien und der TürkeiBild: DW/F. Warwick

Offiziell hat die Türkei die Grenze zu Armenien wegen des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan 1993 geschlossen. In den 1990er-Jahren hatte Armenien die Region Berg-Karabach und weitere Teile Aserbaidschans - eines engen Verbündeten und wichtigen Energiezulieferers der Türkei - besetzt.

Trotz internationaler Vermittlungsbemühungen, die 2009 in einer Rahmenvereinbarung zwischen Jerewan und Ankara gipfelten, bleibt die Grenze geschlossen. Die Spannungen haben im Vorfeld des Jahrestages des Massakers zugenommen.

Ausgesperrte Investitionen

Nur zehn Kilometer westlich von Yerazgavors liegt die türkische Grenzstadt Akyaka. Die Reise von dem einen Ort in den anderen erfordert aber einen rund 220 Kilometer langen Umweg über Georgien. Genau wie in Yerazgavors hat sich auch in Akyaka die Hoffnung auf Investitionen in der Region mit der Schließung der Grenze in Luft aufgelöst.

"Früher sind viele Geschäftsleute in die Region gekommen. Sie haben Land gekauft und wollten Restaurants, Hotels und Geschäfte bauen", sagt Celil Ersoglu. Er kommt aus der Provinzhauptstadt Kars und arbeitet als Fremdenführer. "Nachdem die Grenze geschlossen wurde, sind alle gegangen und nichts ist hier mehr passiert. Nun geht auch die jüngere Generation."

Die internationale Eisenbahnlinie, die das zaristische Russland im 19. Jahrhundert gebaut hat, habe die Menschen beider Länder bis 1993 verbunden, erzählt Akyakas Bürgermeister Muhammet Toptas. "Als wir damals die Zugverbindung zwischen beiden Ländern hatten, gab es einen regen Austausch von Gütern", so Toptas im Gespräch mit der DW. "Heute gibt es weniger Arbeit. Und das betrifft beide Länder."

Der Grenzhandel zwischen der Türkei und dem Nachbarland Georgien boomt. Türkische Städte, die wie Akyaka in der Nähe der armenischen Grenze liegen, beklagen hingegen die Abwanderung junger Menschen. Eine die geblieben ist, ist die 21-jährige Aserbaidschanerin Miray Karabag. Ihre Familie floh damals vor dem Kämpfen zwischen Armenien und Aserbaidschan in die Türkei. Heute arbeitet Miray Karabag in einer Bäckerei in Akyaka. "Früher haben die Menschen hier eng zusammengelebt. Anders als heute gab es keine Diskriminierung zwischen den Nationalitäten. Türken und Andere konnten gut in den jeweiligen Ländern leben."

Bildergalerie Armenien hundertster Jahrestag Völkermord
Bild: DW/F. Warwick

Keine Entschuldigungen

Auf beiden Seiten der Grenze betonen die Menschen der Region ihren Wunsch nach Frieden und Freundschaft. Ihre Darstellung der blutigen Ereignisse vor einem Jahrhundert unterscheidet sich jedoch fundamental.

"Nach allem, was wir wissen, gab es 1915 einzig die Massaker von Armeniern an Muslimen", sagt Cengiz Erben. Der 40-jährige Restaurantbetreiber aus Akyaka wuchs in einer Kleinstadt nahe der Grenze auf. Was er sagt, ist die offizielle Lesart der türkischen Regierung. So wird es an türkischen Schulen unterrichtet. Auf türkischer Seite erinnern Markierungen an den Straßen an die durch armenische Nationalisten zerstörten Dörfer in der Region. Damals hatten sich Armenier - mit russischer Unterstützung - gegen die Herrschaft des Osmanischen Reiches aufgelehnt.

Restaurantbesitzer Cengiz Erben (r.) beim Gespräch mit der DW in Akyaka (Foto: Filip Warwick / DW)
Restaurantbesitzer Cengiz Erben (r.)Bild: DW/F. Warwick

Diese Gegebenheit ist unbestritten. In der offiziellen türkischen Darstellung fehlt allerdings die Reaktion des Osmanischen Reiches: Die systematische Vernichtung der Armenier im gesamten osmanischen Herrschaftsgebiet. Diese Auslassung ist ein heikler Punkt in der heutigen Debatte. Denn die Türkei lehnt es ab, eine Schuld für die blutigen Ereignisse vor 100 Jahren einzugestehen.

"Erstens: Einen Völkermord, oder wie auch immer man das nennen mag, haben wir nicht begangen", sagt Akyakas Bürgermeister Muhammet Toptas. "Zweitens hatten wir keinerlei Probleme mit unseren Nachbarn, seitdem der Grenzübergang geschlossen ist. Wenn erst einmal eine Einigung gefunden ist, werden wir in Frieden und Harmonie leben."

Sein Gegenpart auf der armenischen Seite der Grenze, Yerazgavors Bezirksbürgermeister Artashes Mkhitaryan, hofft, dass die Völkermord-Debatte ein neues Licht auf das aktuell schlechte Verhältnis beider Länder wirft - und Besserung bringt. "Lassen Sie uns hoffen, dass die ganze Welt zum 100. Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern auf unser Verhältnis zur Türkei blickt", sagt Mkhitaryan. "Wie es dann weitergeht? Wir werden sehen."