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Deutscher Zukunftspreis 2009

10. November 2009

In ihrer Werkstatt entstand 1963 der erste deutsche Herzschrittmacher. Und auch heute beweist Biotronik ein Gespür für Innovation: mit Mobilfunk-Unterstützung erfindet die Firma die Behandlung von Herzpatienten neu.

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Herzschrittmacher mit Mini-Antenne (Foto: Ansgar Pudenz)
Das Werkzeug der Herz-Versteher: ein Herzschrittmacher mit Mini-AntenneBild: Ansgar Pudenz
Mini-Antennen für den Herzschrittmacher (Foto: Ansgar Pudenz)
Mit kleinen Antennen Arzt und Patienten zusammenbringenBild: Ansgar Pudenz

Bei Biotronik scheint man mit Fug und Recht sagen zu können: Wir verstehen das Herz, streng wissenschaftlich natürlich. Das Forschungsteam rund um den 45-jährigen Ingenieur Hans-Jürgen Wildau kann das sogar dokumentieren, denn es hat dem Herz bestimmter Patienten beigebracht, wie es E-Mails oder SMS an den behandelnden Arzt schreibt. Klingt wie Magie oder Hexerei?

Ein Herz mit einer Leidenschaft fürs E-Mail schreiben

Nein, es ist das Ergebnis langjähriger, mühsamer Forschungsarbeit, die mit einer zentralen Frage im Kopf begann: Wie kann man Herzpatienten, die mit ihren implantierten Herzschrittmachern ohnehin Stammkunden in Arztpraxen sind, lästige und im Zweifel unnötige Routineuntersuchungen ersparen. Die jetzt preisverdächtige Antwort auf diese Frage ist die IT-gestützte Dienstleistung des Unternehmens, getauft "Home Monitoring". Damit kann der Arzt vom PC aus die Herzfunktion eines Patienten mit Implantat kontrollieren, im Computer-Slang gesprochen, dürfte das dann ein Online-Nachsorgesystem sein. "Arzt und Patient zusammenzubringen, egal wo die beiden gerade sind auf der Welt, dass ist unsere Innovation", sagt Hans-Jürgen Wildau, der Leiter der Forschungsaktivitäten des Familienunternehmens. Zusammengebracht werden die beiden jedoch nicht mittels Magie, sondern durch das Mobilfunknetz. "Den Herzschrittmacher, den der Patient ohnehin implantiert bekommt, benutzen wir als einen Sensor, der Tag und Nacht den Patienten begleitet", sagt Hans-Jürgen Wildau. Das Prinzip des so genannten Telemonitoring ist dabei einfach, die Umsetzung dafür umso komplizierter – und deshalb wohl nicht zu Unrecht mehrfach patentiert.

Hans-Jürgen Wildau, Leiter der Forschungsaktivitäten bei Biotronik (Foto: Ansgar Pudenz)
Hans-Jürgen Wildau, Leiter der ForschungsaktivitätenBild: Ansgar Pudenz

Für die drahtlose Übertragung aus dem Körper des Patienten braucht es einen Herzschrittmacher der neueren Generation. Weltweit besitzen den schon etwa 200.000 Patienten – Tendenz steigend. Der Herzschrittmacher hat einen Minisender mit Antenne integriert; einmal am Tag werden alle relevanten Herzdaten an ein Spezialtelefon gefunkt. Das wirkt in etwa wie ein Mobilfunkgerät der 90er-Jahre, klobig und breit, und es besitzt keine Tastatur. "Dieses Spezialtelefon empfängt die Daten vom Herzschrittmacher und leitet sie über das Mobilfunknetz an eine Servicezentrale", erklärt Hans-Jürgen Wildau. Die Weiterleitung geschieht auf den reservierten Frequenzbändern 402 bis 405 Megahertz, die durch eine internationale Konvention geschützt sind und nur zur Übertragung von Daten aus Körperimplantaten genutzt werden dürfen.

Vom ersten Herzschrittmacher zum virtuellen Herz-Patient

Eine Frau kontrolliert auf einer gesicherten Webseite die Herzfunktion des Patienten (Foto: Biotronik)
Der Arzt kann über eine gesicherte Webseite die Herzfunktion des Patienten kontrollierenBild: Biotronik

In der Service-Zentrale läuft rund um die Uhr eine Auswertungssoftware, die im Augenblick täglich rund 40.000 verschiedene Patientendaten analysiert. "Wenn etwas Besonderes passiert, wird der Arzt per E-mail, per SMS oder per Fax informiert". Der könne dann auf einer verschlüsselten Webseite den Datensatz des Patienten abrufen, habe sowohl langfristig, negative Trends im Blick, wie auch akute Beschwerden. Ohne den Patient zu sehen, weiß der Arzt, ob sein Herz zu schnell, zu langsam oder zu schwach schlägt. Studien des Unternehmens zeigen, dass durch die Online-Nachsorge über die Hälfte aller Routineuntersuchungen beim Arzt eingespart werden können.

"Die Daten", erklärt Hans-Jürgen Wildau, "gehen jeden Tag bis zum Service Center und das verarbeitet alles und stellt fest, ob ein gelber oder roter Zustand des Patienten vorliegt." Gelb bedeutet, gelegentlich beim Arzt vorbeischauen. Rot dagegen, bitte zeitnah den Arzt aufsuchen. Ein Alarmsystem ist die Rot-Gelb-Ampel der im Berliner Multi-Kulti-Stadtteil Neukölln beheimateten Firma aber nicht. Denn der Notfall, also Herzrhythmusstörungen oder Herzkammerflimmern, werde immer noch vom Implantat selbst gelöst.

Trotzdem biete die Online-Nachsorge etwas, was man eigentlich nicht in Geld ausdrücken könne, sagt Hans-Jürgen Wildau: "Aus Patientensicht ist es absolut entscheidend, dass der Arzt zeitnah sieht, wenn sich an dem Krankheitsbild etwas ändert." Diese Früherkennung gebe Sicherheit - und könne oft auch schwerere Erkrankungen verhindern.

Hans-Jürgen Wildau
Hans-Jürgen Wildau beim Besuch von DW-Reporter Richard A. FuchsBild: DW/Fuchs

Umfassende Patientensicherheit oder gläserner Patient?

Und welchen Wert hat die IT-Innovation für das Unternehmen? Allein am Standort Berlin wurden nur durch das neue Online-Nachsorgesystem 100 neue Jobs geschaffen. Und mit über 40 Prozent mehr Nutzern pro Jahr dürfte es eine Frage der Zeit sein, bis der neue Unternehmenszweig weiteres Personal braucht. Weltweit arbeiten inzwischen rund 4900 Menschen für den Herz-Kreislauf-Gerätehersteller. Erfüllt ist die Mission 'der Herz-Versteher' aber keineswegs, denn das Online-Nachsorgesystem soll in Zukunft noch mehr Gesundheitsdaten berücksichtigen, so dass ein immer kompletteres, digitales Patientenbild entsteht. Kritiker warnen an dieser Stelle vor der Gefahr des gläsernen Patienten, also vor der völligen Offenlegung des Krankheitsbildes eines Patienten, der nicht mehr selbst bestimmt darüber entscheiden kann, ob seine Daten an Dritte weitergegeben werden oder nicht. Hans-Jürgen Wildau nimmt Vorwürfe wie diesen sportlich: Frühzeitiger das riskante Vorhofflimmern erkennen oder umfassender über die Blutdruckrisiken eines Patienten Bescheid wissen, das könne im Zweifel auch einmal das Leben seiner Kritiker retten.

Autor: Richard A. Fuchs

Redaktion: Judith Hartl