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Die Illusion der Sicherheit

1. November 2004

Selbstmordanschlag in Tel Aviv: Seit Monaten ist es das erste Attentat in der Küstenstadt. Oliver Schilling beschreibt für DW-WORLD seine Eindrücke unmittelbar nach dem Anschlag ganz in der Nähe seines Hotels.

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Mehrere Tote und Verletzte nach dem SelbstmordanschlagBild: AP

Beklemmung. Ein Gefühl der Ohnmacht. Wir sitzen auf dem Dach des Carlton Hotels neben dem Pool. 26 Grad ist es warm, ein Sommertag im Herbst; vor uns der Blick auf das Meer und die Strandpromenade von Tel Aviv. Der Himmel ist klar, im Hintergrund Lounge-Musik. Die Gäste sollen sich wohl fühlen.

Es ist mein zweiter Tag in Tel Aviv. Um kurz vor zwölf Uhr mittags ist es vorbei mit der Entspannung. Hubschrauber-Lärm unterbricht die Idylle. Sirenengeheul. Einen Anschlag auf dem Gemüsemarkt, nur etwa drei Kilometer Luftlinie entfernt soll es gegeben haben. Das spricht sich schnell herum, hier auf dem Dach des 16. Stocks mitten im Stadtzentrum. Genaueres weiß niemand. Viel hat man von den Anschlägen immer wieder gehört, täglich die Meldungen der Nachrichtenagenturen und Korrespondenten von Deutschland aus verfolgt. Doch nun sind wir selbst mit einer Gruppe von deutschen Journalisten nur einen Katzensprung entfernt von dem Ort des Schreckens. Und alle wissen: Es hätte jeden von uns treffen können, oder etwa die Freunde und israelischen Journalisten, die wir gestern getroffen und mit denen wir hitzig über den Konflikt diskutiert haben. Die Gefahr ist allgegenwärtig.

Durchkreuzte Theorie

"Pigua" - das hebräische Wort für "Attentat" macht die Runde auf dem Dach des Carlton. Doch kaum jemand spricht noch. Der Schock sitzt buchstäblich in der Kehle. Was tun, wie sollen wir uns verhalten? Es mutet zynisch an, hier auf dem Dach unser Sonnenbad fortzusetzen mit den sanften Klängen im Hintergrund und dem fantastischen Ausblick. Doch was sollte man anderes tun?

Bisher galt Tel Aviv als eine der sichersten Städte des Landes, sicherer als Haifa und vor allem: sicherer als Jerusalem. "Bis hierher schaffen es die Attentäter sowieso nicht, nicht mehr seitdem wir den Zaun und die Mauer gebaut haben", wurde mir immer bestätigt. Und wenn überhaupt - dann sei es eher morgens und abends gefährlich, in den Hauptverkehrszeiten. Auch der Freitag, wenn die Geschäfte und Märkte voll sind und die Menschen kurz vor dem Sabbat eilig ihre Einkäufe erliegen, galt als tendenziell gefährlich. Der Anschlag am Montag auf dem Carmel-Markt um 11 Uhr 30 hat alle diese Theorien durchkreuzt.

Keine Gewöhnung an den Terror

Die Menschen in Israel basteln, jeder für sich, ihre eigenen Sicherheitsformeln. Das tun wir als Besucher natürlich auch. Man schlüpft für einen Moment in die Rolle der Attentäter und überlegt, was man tun würde, um möglichst viele Menschen zu töten. Entsprechend stellt man das Leben um. Busse und volle Cafés zu meiden gehört zu den Grundregeln. Entsprechend ist wohl die Taxibranche einer der wenigen florierenden Wirtschaftszweige in diesem Land. Doch auch diese selbstgeschusterten Verhaltensregeln helfen nur teilweise. Was heute passiert ist, mutet an wie das Erdbeben in der japanischen Stadt Kobe, bei dem 1995 als vollkommen erdbebensicher geltende Gebäude wie Kartenhäuser einstürzten - mit ihnen auch der Glaube an Sicherheit und Technik.

Es ist das erste Mal, dass ich einen Anschlag so nah miterlebe. Ich frage mich, ob mein Schock beim nächsten Anschlag ähnlich groß sein wird. Die Israelis sagen mir, sie seien immer wieder betroffen von den Horrormeldungen, es gäbe keine Inflation der Anteilnahme. "Es stockt mir immer wieder der Atem nach diesen Terrormeldungen", sagte mir gestern Abend Assaf Yeheskelly von Channel 2, dem zweiten Israelischen Fernsehen. Das hatte mich gewundert.

Die Hubschrauber kreisen weiter über dem Stadtzentrum. Wir sollten Sonnencreme auftragen, die Sonne steht nun um kurz vor zwölf im Zenit.

Oliver Schilling ist freier Mitarbeiter der Deutschen Welle. Bis Dezember arbeitet er als Stipendiat der Internationalen Journalistenprogramme bei der israelischen Tageszeitung Haaretz in Tel Aviv.