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"Die knappste Mehrheit genügt"

27. Juni 2002

- Gespräch mit dem designierten tschechischen Ministerpräsidenten Vladimir Spidla

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Prag, 26.6.2002, PRAGER ZEITUNG, deutsch, Aureliusz Pedziwol

Vladimir Spidla soll die neue Regierung Tschechiens bilden. Der siegreiche Sozialdemokrat steht vor einer schwierigen Aufgabe – mit seinem Wunschpartner, dem liberalen Bündnis Koalice bringt er es auf 101 von 200 Stimmen – die knappste Mehrheit.

Die Wahl 2002 brachte einen Sieg für die tschechische Sozialdemokratie und eine Niederlage der Rechtsparteien. Es gab auch den großen Erfolg der Kommunisten, die fast jede fünfte Stimme bekommen haben - und das in einem Land, wo ein Gesetz gilt, das den Kommunismus als verbrecherisch einstuft.

Frage:

Hat Sie das Wahlergebnis verwundert?

Antwort:

Nein, weil wir die ganze Zeit die Lage analysiert haben. Der Ausgang zeichnete sich seit Wochen ab.

Frage:

Das Resultat der Kommunisten war für Sie keine Überraschung?

Antwort:

Es hängt wahrscheinlich mit der niedrigen Wahlbeteiligung zusammen. Die Kommunisten haben einen festen Wählerstamm. Ich muss noch nachprüfen, wie viel sie an Stimmen mehr bekommen haben.

Frage:

Sie schließen eine Koalition sowohl mit Kommunisten als auch mit der Bürgerlichen Demokratischen Partei ODS aus. Es bleibt also nur die Koalition mit der Koalice (dem Parteienbündnis von Christlich-Demokratischer Union KDU-CSL und der Freiheitsunion US) oder eine Minderheitsregierung. (...) Im Fall einer Koalition mit Christdemokraten und Liberalen haben Sie eine Mehrheit, die nur um eine Stimme über dem Limit liegt. Das Regieren wird von allen Partnern große Disziplin erfordern.

Antwort:

Mit Sicherheit. Aber das Kabinett, das zurücktritt, hatte nur eine große Minderheit.

Frage:

Es wurde jedoch durch eine starke Partei geduldet.

Antwort:

Das stimmt. Ich nehme jedoch an, dass diese Mehrheit genügt. Sie wird diszipliniert sein und auf einem guten Programm basieren.

Frage:

(...) Was werden die wichtigsten Aufgaben bei der Wirtschaft sein? Was sind die Prioritäten?

Antwort:

Die Unterstützung der Wirtschaft fortsetzen und Bedingungen schaffen, die weiteres Wachstum ermöglichen. Hauptpunkt der Regierungsagenda wird die Restrukturierung von Nordmähren und Nordböhmen sein. (Anmerkung der Redaktion: Dort liegen Schwerindustriegebiete mit Kohlenbergbau und Stahlindustrie, die die höchsten Arbeitslosenraten in der Tschechischen Republik haben).

Frage:

Das Wirtschaftswachstum unterstützen - aber wie?

Antwort:

Mit Investitionsanreizen, mit Entwicklung im Wissenschafts- und Bildungsbereich, mit Infrastrukturmaßnahmen - also durch klassische Modernisierung nach westeuropäischem Muster.

Frage:

Wird es dafür Geld geben?

Antwort:

Wie Sie sehen, bringen Investitionsanreize Milliarden Kronen zurück. Alles andere ist erreichbar - das ist nur eine Frage von Prioritäten.

Frage:

Denken Sie auch an Fortsetzung der Privatisierung?

Antwort:

Mit Sicherheit wird es noch Privatisierungen geben. Aber darüber werden wir noch diskutieren müssen. Letztendlich gibt es mittlerweile sehr wenig zu privatisieren.

Frage:

Was vor allem?

Antwort:

Ich glaube, dass die Privatisierung der Telekommunikation bedeutende Fortschritte gemacht hat. Über den Rest wird man diskutieren müssen.

Frage:

Die Energiewirtschaft... Stichwort CEZ? (CEZ = Tschechische Energiewerke – MD)

Antwort:

Ich habe gesagt: Darüber wird man diskutieren müssen.

Frage:

Die tschechische Krone ist in der letzten Zeit sehr stark geworden. Ist das gut oder schlecht für die Wirtschaft?

Antwort:

Die Krone selbst an sich ist für die Wirtschaft neutral. Das Problem ist, dass die Krone mit einer solchen Rasanz an Stärke gewinnt, dass es die Elastizität unserer Wirtschaft überfordert. Deshalb ist unser Ziel, dass die Krone nicht so schnell wächst, dass sie sich stabilisiert und sogar - wenn es möglich sein sollte - schwächer ist. Aber gerade hier sind unsere Möglichkeiten beschränkt. Wenn Sie sich klar machen, dass wir wahrscheinlich der weltweit attraktivste Investitionsstandort sind, dann wird Ihnen auch klar, dass ein Land, das zehn Millionen Einwohner zählt, ziemlich große Probleme auf diesem Gebiet haben kann.

Frage:

Der attraktivste Ort wegen des herannahenden EU-Beitritts?

Antwort:

Es gibt mehrere Gründe dafür. Erstens hat es auf unserem Gebiet tausend Jahre lang keinen Zusammenbruch der Wirtschaft gegeben. In dieser Hinsicht sind wir das stabilste Gebiet weltweit. Man sieht zweitens klar, dass Auslandskapital in großem Umfang hierher fließt - das heißt, wir schließen uns in voller Breite auf der Basis des Wettbewerbs der globalen Wirtschaft an. Aber wir sind ein mittelgroßes Land und da ist es selbstverständlich, dass die Möglichkeiten nach einer gewissen Zeit enden. Natürlich sind auch die NATO-Mitgliedschaft und der baldige EU-Beitritt ein zusätzliches Argument.

Frage:

Außerdem ist Tschechien ein Land der billigen Arbeitskraft.

Antwort:

...und der hochqualifizierten dazu. Und wir haben eine anständige Infrastruktur. Die Straßen könnten sicher besser sein, aber das gesamte Land ist wirklich zugänglich. Die Telekommunikations-Infrastruktur ist auch auf einem ordentlichen Niveau. (...) Diese Infrastruktur genügt einfach, in jeder Hinsicht.

Frage:

Wird die Arbeit in Tschechien langfristig so billig bleiben?

Antwort:

Selbstverständlich nicht, weil unser Entwicklungskonzept nicht auf der billigen Arbeitskraft basiert. Unsere Fähigkeiten, sich in einer Wettbewerbsumgebung zu bewegen, sind hoch - der Preis der Arbeit wird steigen.

Frage:

Das Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent ist so hoch noch nicht. Was möchten Sie erreichen?

Antwort:

Zur Zeit ist es das fünftgrößte Wachstum in der Welt, also ein ausgezeichnetes Wachstum. Und wenn die Welt sich zusammenfindet und die Konjunktur allgemein anzieht, wird ein Wachstumstempo von sechs Prozent real sein.

Frage:

Zu Zeiten von Vaclav Klaus fiel das Land in eine Rezession. Gibt es dagegen letztendlich Sicherheiten ?

Antwort: Es gibt keine absolute Sicherheit. Aber eine vernünftige Wirtschaftspolitik, eine gute Zusammenarbeit mit der Zentralbank, und insbesondere der Kontakt zur Wirklichkeit - das sind gute Garantien. (ykk)