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Die letzten Zeugen

Silke Bartlick14. Mai 2014

Dieses Gastspiel beim Berliner Theatertreffen fällt aus dem Rahmen. Es verzichtet auf üppige theatrale Mittel und setzt ganz auf die Kraft der Worte von sechs Holocaust-Überlebenden. Ein bewegendes Erlebnis!

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Bild der Aufführung (Foto: Reinhard Werner /Burgtheater)
Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Am Ende hat sich das Publikum geschlossen erhoben und langen, bewegten Beifall gespendet. Eine Verbeugung vor sechs alten Männern und Frauen, die es geschafft haben, zu überleben. Die die barbarische Unmenschlichkeit des Dritten Reichs überstanden haben.

Zwei Stunden lang sitzen sie auf der Bühne, hinter zwei Schichten halbtransparenter Leinwand, auf die ihre Gesichter live projiziert werden - ernste Gesichter mit kleinen zufälligen Bewegungen. Wir sind da, sagen diese Gesichter, und wir sind es, deren Geschichten hier heute verlesen werden. Von vier Schauspielern des Wiener Burgtheaters, vorne, vor den Leinwänden - und klug verwoben zu einer konzentrierten Collage über die Erlebnisse der Jahre zwischen 1938 und 1945.

Wir sind da

Lucia Heilman, Rudolf Gelbard, Vilma Neuwirth und Marko Feingold, Suzanne-Lucienne Rabinovici und Ari Rath sind zwischen 80 und 100 Jahre alt. Mit Ausnahme von Suzanne-Lucienne Rabinovici sind sie alle in Wien aufgewachsen und haben den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 hautnah miterlebt: die Begeisterung der Massen und die abrupten Veränderungen im Alltag. Dass Polizisten über Nacht hakenkreuzgeschmückte Uniformen trugen und aus netten Nachbarn giftige Arier wurden. Wie sich der unterschwellig lang gesäte Antisemitismus mit brachialer Gewalt entlud und immer neue widerliche Fratzen des Bösen zeigte. Am 1. April 1938 wurde der erste Transport in das Konzentrationslager Dachau durchgeführt, von den 151 deportierten Männern waren 60 Juden.

Die letzten Zeugen (Foto: Reinhard Werner /Burgtheater)
Die letzten ZeugenBild: Reinhard Werner/Burgtheater

Vilma Neuwirths Bruder Kurth packte damals seinen Rucksack. Er wollte weg, nur weg. Als Jude unter Hitler zu leben sei Selbstmord. So, sagt Vilma Neuwirth, begann die Auflösung der Familien. Was folgte, ist weithin bekannt und schnürt einem in dieser leisen unaufgeregten Burgtheater-Einrichtung doch die Luft ab. Weil die Zeitzeugen, deren Leidensgeschichten die Schauspieler mit sachlicher Stimme vortragen, in jeder Sekunde präsent sind. Weil sie, die Menschen, die Hunger, Gewalt, Transporte, Demütigungen, Krankheiten, Todesängste und Todesmärsche durchlitten und irgendwie überlebt haben, als stumme Mahner auf der Bühne sitzen und uns unmittelbar mit dem dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte konfrontieren. Weil wir ihre Gesichter sehen, im Wechsel mit Kinderbildern, Fotos von Eltern und Geschwistern sowie zeithistorischen Aufnahmen aus Österreich, Deutschland und dem Baltikum, der Heimat Suzanne-Lucienne Rabinovicis.

Wider das Vergessen

Eine siebente am Projekt Beteiligte, die Romni und KZ-Überlebende Ceija Stojka, starb am 28. Januar 2013 in einem Wiener Spital. Sie war in den Konzentrationslagern Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen interniert und gehört zusammen mit ihrer Mutter und vier Geschwistern zu den wenigen Überlebenden einer 200 Personen zählenden Großfamilie. Ihr Sessel auf der Bühne bleibt frei, behängt mit einem bunten Tuch. Gegen Ende des Abends erklingt Ceija Stojkas Stimme vom Band, sie singt ein berührendes Lied und mahnt, nicht zu vergessen.

Pressefotos - Die letzten Zeugen (Foto: Reinhard Werner /Burgtheater)
Szenenbild "Die letzten Zeugen"Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Sein Leben sei ein Privileg, sagt Rudolf Gelbard, als er schließlich, wie die anderen Zeitzeugen auch, nach vorne auf die Bühne kommt und selbst kurz das Wort ergreift. Er habe sich immer gefragt, was er für die tun könne, die nicht überlebt haben. So habe er beschlossen, ihr Sprachrohr zu sein. Zumal Rudolf Gelbard die Sorge umtreibt, dass gegenwärtige neonazistische Bewegungen nicht ernst genug genommen werden.

Österreichs Erbe

Die Vergangenheit ist weder in Deutschland noch in Österreich vollständig "aufgearbeitet". Wahrscheinlich ist das auch gar nicht möglich. In Österreich ist man mit Faschismus und Völkermord freilich lange besonders lasch umgegangen, die nationalsozialistische Geisteshaltung wurde nur zögerlich abgelegt. KZ-Überlebende mussten erfahren, dass sie nicht willkommen sind, über antisemitische Äußerungen hat sich kaum jemand empört, und der NS-Soldat und Offizier Kurt Waldheim, der detaillierte Kenntnisse über Kriegsverbrechen und Deportationen besessen hatte, konnte noch von 1986 bis 1992 Bundespräsident des Landes sein.

Pressefotos - Die letzten Zeugen (Foto: Reinhard Werner /Burgtheater)
Beim SchlussablausBild: Reinhard Werner/Burgtheater

Von ihrem Leben seit 1945 erzählen die Zeitzeugen nicht auf der Bühne, sondern anschließend, in moderierten Publikumsgesprächen. Hellwach, blitzgescheit und mit hinreißendem Humor. Ein bemerkenswerter Abschluss eines außergewöhnlichen Theaterabends. Langer Nachklang garantiert!